Lehrermangel in Berlin: Sechs Grundschullehrer auf 33 offene Stellen
Berlin hat zu wenig Grundschullehrer - das hat die Bildungsverwaltung schon vor Jahren erkannt, und trotzdem mögliche Kandidaten abgelehnt. Die Folgen sind dramatisch. Das Land will nun sogar im Ausland nach Lehrer suchen.
Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gerät angesichts des extremen Mangels an Grundschullehrern zunehmend in Erklärungsnot: Dem Tagesspiegel liegen erste Ergebnisse der jüngsten Einstellungsrunde vor, die das Ausmaß der Unterversorgung offenbaren. Grundschulforscher Jörg Ramseger sprach am Dienstag von einer „Dequalifizierungskampagne“, die den Grundschulen widerfahre.
Wie groß die Not ist, offenbaren neue Zahlen aus Reinickendorf: Für 33 offene Stellen an den Grundschulen konnten zum 1. Februar nur sechs Grundschulpädagogen gefunden werden. Acht weitere Stellen wurden durch Quereinsteiger besetzt und 19 durch Lehrer für Gymnasien, Sekundarschulen oder Sonderpädagogik.
„Die Situation in Reinickendorf steht beispielhaft für die anderen Bezirke“, lautet die Einschätzung von GEW-Sprecher Manuel Honisch. Die GEW verweist zudem darauf, dass die Situation seit Langem absehbar war: „Spätestens Anfang 2013 muss in der Senatsverwaltung vor dem Hintergrund der neuen Bevölkerungsprognose klar gewesen sein, dass gerade in den Grundschulen der Bedarf besonders stark ansteigt“, erinnert Hochschulexperte Matthias Jähne und verweist auf eine Anfrage der Linken vom April 2013. Damals schrieb SPD-Bildungsstaatssekretär Mark Rackles mit Hinweis auf aktuelle Bevölkerungsprognosen, dass bis 2017/18 rund 3750 neue Grundschullehrer benötigt würden, wobei die beschlossene Altersermäßigung sogar noch unberücksichtigt war.
Dennoch wurde in den damals verhandelten Hochschulverträgen keine Quote für die Ausbildung von Grundschullehrern verankert. Dabei ist die Lage schon jetzt dramatisch: Wie berichtet, werden für 2016 rund 1000 neue Grundschullehrer gebraucht, aber nur 175 beenden ihr Referendariat. Jahrelang wurden tausende Bewerber für das Studium der Grundschulpädagogik mangels Studienplätzen abgelehnt.
Angesichts der offenkundigen Mangelsituation wies die Bildungsverwaltung am Dienstag darauf hin, dass zum Wintersemester 2014/15 rund 150 zusätzliche „Eingangsstudienplätze“ für Grundschulpädagogik geschaffen worden seien. Dies sei auch deshalb geschehen, „weil wir unsere Bedarfe deutlich gemacht haben“. Für die Humboldt- Universität gilt diese Darstellung nicht: Erst „nachdem dieser Ausbau abgeschlossen war“, habe die Verwaltung auf das erhebliche Defizit bei den Grundschullehrern hingewiesen, hieß es.
„Es gab in den letzten Jahren offenkundig keine vorausschauende Personalplanung“, lautet die Bilanz von Jörg Ramseger, der an der Freien Universität künftige Grundschullehrer ausbildet: „Wir haben es ständig gesagt, aber niemand hat die Verantwortung gespürt“, bedauert Ramseger. Er sieht ein „absurdes Missverhältnis zwischen dem vorhersehbaren Bedarf und der Studienplatzzahl“.
Die Konsequenzen tragen die Kinder. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es nicht mehr genug ausgebildete Grundschulpädagogen gibt, um die unteren Klassen zu versorgen. Für die Vermittlung des Schriftspracherwerbs seien die Studienräte nicht ausgebildet, mahnt Ramseger. Hinzu kommt, dass die Fehlplanung teuer ist, denn die Studienräte, die die Löcher an den Grundschulen stopfen, kosten pro Monat rund 500 Euro mehr als ausgebildete Grundschulpädagogen. Bei – niedrig geschätzt – 500 aktuell an Grundschulen eingesetzten Studienräten ergeben sich Mehrkosten von jährlich rund drei Millionen Euro, die Berlin nur deshalb ausgeben muss, weil keine Vorsorge für die absehbare Pensionierungswelle getroffen wurde. Allein im August 2015 waren unter den 732 Eingestellten in den Grundschulen laut GEW 218 Studienräte.
Wie berichtet, sollen ältere Lehrer jetzt ermuntert werden, über die Pensionierungsgrenze hinaus im Dienst zu bleiben. Angesichts der Personalnot hatte der Hauptpersonalrat bereits Unterstützung für diesen Schritt signalisiert. Außerdem will das Land nun offenbar auch Lehrer in Österreich und in den Grenzregionen der Niederlande anwerben. Dies sagte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) der „Berliner Zeitung“. Gedacht werde vor allem an Nachwuchskräfte, um dem Lehrermangel in der Hauptstadt zu begegnen. Überlegungen, auch in der Schweiz Lehrkräfte anzuwerben, seien wegen der dort höheren Bezahlung dagegen wieder verworfen worden.
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