Kinder in Berlin: Wenn der Schulstress zu groß wird
Unser Autor ist Trainer einer D-Jugend-Fußballmannschaft. Als immer häufiger Kinder beim Training fehlen, weil sie abends noch lernen müssen, wird er hellhörig. Er hört sich bei Eltern um und findet heraus: Erstaunlich viele Schüler sind so überlastet, dass die Nerven blank liegen.
Es nieselte, ein kalter Wind wehte, gleißendes Flutlicht leuchtete den Platz aus. Ein Tag im Januar, der Tag, an dem ich endgültig dachte, dass hier etwas ziemlich schiefläuft. Die erste Whats-App-Nachricht kam um 17.56 Uhr. Das war noch Routine. Um 18.07 Uhr war nichts mehr Routine. Da herrschte bei mir gefühlt Alarmstimmung.
Die Nachricht um 17.56 Uhr kam von Jörgs* Vater. „Jörg kann nicht ins Training kommen, er muss noch Schularbeiten machen“, schrieb er. Eine Absage mit diesem Inhalt bin ich gewöhnt. Auch zwei oder drei Absagen pro Training. Aber bis 18.07 Uhr kamen acht Absagen, Inhalt immer: „Mein Kind kann nicht kommen, es muss noch Schulaufgaben erledigen.“ Oder auf eine Arbeit lernen.
Ich bin Fußballtrainer, ich coache eine D-Jugend im Süden Berlins, meine Jungs gehen in die sechste Klasse Grundschule oder in die siebte Klasse Gymnasium. Unser Training beginnt stets um 18.15 Uhr.
Acht Absagen in elf Minuten
Mir fällt schon länger auf, dass meine Spieler wegen Schularbeiten nicht kommen. Ich habe es erst mal nur zur Kenntnis genommen. Aber acht Absagen in elf Minuten, das hatte ich noch nie. Und deshalb stand plötzlich die Frage im Raum: Überfordert die Schule viele Schüler durch zu viel Hausaufgaben? Leidet der Sport unter dem Druck der Lehranstalten? Bin ich ein Einzelfall oder geht es anderen Trainern auch so?
Im Schulgesetz steht: „Die Schule ist zum Schutz der seelischen und körperlichen Unversehrtheit, der geistigen Freiheit und der Entfaltungsmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler so zu gestalten, dass die Anforderungen und Belastungen (....) altersgemäß und zumutbar sind und ausreichend Zeit für eigene Aktivitäten bleibt.“
Kinder erhalten Tabletten zur Konzentration
In einem Brief, den die Mutter einer meiner Jungs an dessen Klassenlehrerin geschrieben hat, steht: „Ich möchte Ihnen mitteilen, dass Michaels Kopf VOLL ist, seine Motivation nahezu erschöpft und meine Nerven blank sind. Kurz: Wir können nicht mehr. Es ist nicht nur der zu bewältigende Stoff, sondern auch der Frust über den Verzicht auf andere Dinge, (...) und allgemein das Plattsein von einem konzentrierten Sechs- bis Acht-Stunden-Schultag. Deshalb möchten wir Sie noch mal eindringlich bitten – wenn möglich –, den Stoff der nächsten zwei Wochen zu reduzieren.“
Eine andere Mutter aus meiner Mannschaft sagt: „Wir kennen viele Kinder, die Tabletten bekommen. Die Tabletten sollen die Konzentration fördern und wach machen.“ Sie hatte so ein Kind mal zum Übernachten. Deren Eltern baten die Mutter, ihrem Kind so eine Tablette zu geben. „Das fiel mir sehr schwer“, sagt die Mutter. Ergebnis: „Das Kind war nahezu lethargisch und wie in einer eigenen Welt. Wie auf Droge gestellt.“
Extrembeispiele? Vielleicht. Ganz sicher nicht die Norm. In meiner Mannschaft gibt es auch Mütter, die zwar über partiell hohe Belastungen durch die Schule klagen, die aber noch keine grundsätzlichen Probleme sehen. Belastung ist ja auch ein subjektives Gefühl. Der eine lernt schneller als der andere, der eine fängt früher mit Hausaufgaben an und schafft es deshalb ins Training, der andere fängt zu spät an und muss dann am Abend lernen. Und gerade vor dem Übergang auf die weiterführende Schule oder im Probejahr des Gymnasiums ist die reale und die gefühlte Belastung enorm hoch. Und ja, dann gibt es natürlich auch noch überehrgeizige Eltern, die den Druck auf ihre Kinder massiv verstärken.
Übers Wochenenden sollen keine Hausaufgaben aufgegeben werden
Beate Stoffers, Sprecherin der Senatsbildungsverwaltung, sagt: „Es gibt keine Vorschriften über Soll-Hausaufgaben. Gut organisierte Schulen haben ein Hausaufgabenkonzept entwickelt, in dem abgestimmt ist, wie Hausaufgaben auf die unterschiedlichsten Weisen verteilt werden. Dennoch gilt auch hier vor einer Bewertung die Betrachtung des Einzelfalls. Während das eine Kind die Hausaufgaben in 20 Minuten erledigt, braucht das andere Kind drei Stunden.“ Und: „Über das Wochenende, also von Freitag auf Montag, sollen keine Hausaufgaben aufgegeben werden.“
Klar gibt es eine enorme Bandbreite, es gibt ja genügend Kinder, die regelmäßig trainieren. Von den Kindern in Eliteschulen des Sports, die enormes Trainingspensum mit anspruchsvollem Schulstoff verbinden müssen, ganz zu schweigen.
Aber kann es sein, dass bei vielen Schülern, auch bei Kindern mit schneller Auffassungsgabe, der Zeitaufwand, den sie mit Lernen verbringen, höher ist als eigentlich vorgesehen? Wenn es nicht bloß individuelle, sondern also auch strukturelle Probleme gibt? In meiner Mannschaft kenne ich kaum ein Kind, das nicht auch am Wochenende lernt, oft sogar am Samstag und Sonntag. Die Phasen mit freiem Spiel werden dann immer kürzer.
Fatal ist es dann, wenn der Druck unnötig erhöht wird. Die Mutter sagt auch: „Es gibt zu viele Tests innerhalb des gleichen Zeitraums, in dem versäumt wurde, dass sich Lehrer abstimmen.“ Wie oft passiert das? Ab und zu? „Häufig.“
Psychologe sieht das Problem, "dass sich alles verdichtet"
Klaus Seifried war 26 Jahre Schulpsychologe in Berlin. Jetzt ist er im Ruhestand, aber noch immer in diversen Gremien aktiv. Seifried sagt: „Das Problem in der heutigen Zeit ist, dass sich auch in der Schule vieles verdichtet.“ Es sei ein Dilemma, „dass der Unterricht an Gymnasien oft bis in den Nachmittag reicht, aber nicht die Bedingungen einer Ganztagesschule bestehen, wie etwa Mittagessen in der Mensa, Freizeitbereich, Hausaufgabenbetreuung“. In Ganztagsschulen sollten in der Regel nach der Schule keine Hausaufgaben mehr erledigt werden müssen. In Gymnasien sollten die Hausaufgaben möglichst in einer Stunde zu erledigen sein. Wenn man für Arbeiten lernen müsse, dann sollte nach zwei Stunden Schluss sein.
Und, sagt Seifried, ganz wichtig: Kinder und Jugendliche bräuchten Sport, um sich auszutoben. Bewegung ist wichtig als Ausgleich zum Stillsitzen und Lernen. Sport könne sehr belebend wirken und motorische Unruhe und Konzentrationsschwächen abbauen.
Wenn ein Kind denn kommt. Ich habe in fast jedem Training mindestens zwei Kinder, die wegen der Schule nicht auftauchen. Damit fällt aber die Abwechslung weg. Ich habe aber auch einen Jungen, der zwar kommt, aber geistig oft so ausgelaugt ist, dass er wie ein rüstiger Rentner über den Platz schleicht.
Im Notfall kann man die Reißleine ziehen, man muss es sogar. „Eltern haben auch eine Fürsorgepflicht für ihre Kinder“, sagt Seifried. „Es kann in Belastungsphasen auch mal nötig sein, dass man dem Lehrer einen Brief oder eine Mail schreibt und sagt, das Kind habe es nicht mehr geschafft, alle Hausaufgaben zu erledigen.“ Dann kann das Kind als Ausgleich zum Training gehen.
Eine Mutter: "Wir können wirklich nicht mehr"
Eine Mutter sagte mir: „Meine Kinder verlieren die Lust, in die Schule zu gehen. Schlimmer noch: Sie entwickeln manchmal Strategien, um dem Druck zu entkommen oder ihm gerade noch standzuhalten. Zum Beispiel werden zu erledigende Aufgaben in der Schule angeblich vergessen oder nur einige Punkte, die für die Arbeit zu lernen sind, notiert.“
Jene Mutter, die an die Klassenlehrerin geschrieben hat, fasste ihre Verzweiflung in dem Brief kürzer zusammen: „Wir können wirklich nicht mehr.“
Wirklich war unterstrichen.
*Namen der Kinder geändert. Der Autor möchte nicht genannt werden, ist der Redaktion aber bekannt.
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