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Klaus Seifried, 65, leitete das schulpsychologische und inklusionspädagogische Beratungszentrum Tempelhof-Schöneberg. Er ist Psychologe, Therapeut und Lehrer. Nun wurde er pensioniert.
© Markus Wächter

Interview mit Schulpsychologen: „Vielen Kindern fehlt der Halt“

Welche Probleme belasten die Berliner Schüler und ihre Lehrer? Ein Gespräch mit dem Schulpsychologen Klaus Seifried.

Herr Seifried, seit vielen Jahren arbeiten Sie als Schulpsychologe und leiten das Beratungszentrum in Tempelhof-Schöneberg. Sie müssen die Psyche der Berliner Schüler und Lehrer gut kennen. Welche Probleme beschäftigen sie?

Bei den Kindern und Jugendlichen, die zu uns kommen, haben wir es mit allen Arten von Lern- und Verhaltensproblemen zu tun. Manchmal geht es um Mobbing oder um Gewaltvorfälle, manchmal um eine Lese-Rechtschreibschwäche oder auch um eine besondere Begabung.

Nach empirischen Studien haben 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten, etwa fünf Prozent eines Jahrgangs sind behandlungsbedürftig. Wir stellen fest, dass die Fälle schwieriger und komplexer werden.

Woran liegt das?

Oft fehlt es an Halt. Die soziale Binde- und Haltefunktion der Familien hat abgenommen. In Berlin wachsen rund 30 Prozent der Kinder mit nur einem Elternteil auf. Die Trennung der Eltern ist immer eine emotionale Belastung für die Kinder. Außerdem steigen die Leistungsanforderungen im Schulsystem, an den Universitäten, auf dem Arbeitsmarkt und der Erwartungsdruck vieler Eltern. Eltern machen die Erfahrung, dass ihre Arbeit immer dichter wird. Diesen Druck geben sie teilweise an die Kinder weiter.

Andererseits gibt es Eltern, die nur wenige Anforderungen an ihre Kinder stellen. Eltern, die nur noch wenig Erziehungsarbeit leisten. Manche Eltern sind überfordert oder trauen sich nicht, ihren Kindern Grenzen zu setzen, wenn diese beispielsweise nachts um zwölf Uhr noch vor dem Computer sitzen wollen.

Und welche Probleme haben die Lehrer?

Stellen Sie sich vor, Sie fahren Taxi und die Fahrgäste greifen ihnen ins Lenkrad. Solche Situationen gibt es im Unterricht immer wieder. Schüler provozieren und stören. Es ist schwer, da immer drüber zu stehen und diese Konflikte zu bearbeiten. Schulen sollen zudem immer mehr Erziehungsarbeit leisten und den Kindern Grenzen setzen, die sie zu Hause nicht bekommen.

Wie können Sie als Schulpsychologe bei diesen Problemen helfen?

Wir versuchen – durch Gespräche, Beratung und Diagnostik – die Situation zu verstehen und zu verbessern. Das Ziel ist immer, den Schüler zu stabilisieren, zu stärken und neue Perspektiven aufzuzeigen. In unserer Gesellschaft wird zu oft defizitär gedacht: Was ist das Problem, wo hat jemand Fehler? Wichtiger ist es, die Ressourcen der Kinder und ihrer Eltern zu stärken.

Wir arbeiten systemisch, das heißt, wir beziehen das Umfeld in der Schule und Familie mit ein. Denn es nützt wenig, wenn ich einen ängstlichen Schüler stabilisiere, und zu Hause wird weiterhin Angst erzeugt. Oder wenn ich einen Schüler, der eine Rechenschwäche hat, in seiner Leistungsbereitschaft stärke, aber der Lehrer erkennt diese Entwicklung nicht an und glaubt weiterhin, dass der Schüler einfach faul ist. Dann bespreche ich als Schulpsychologe mit dem Lehrer, welchen Nachteilsausgleich der Junge braucht.

Und wie helfen Sie den Lehrern?

Es ist das gleiche Prinzip. Es geht darum, Menschen zu stärken: einem Schulleiter Mut zu machen, sein Kollegium mehr wertzuschätzen oder auch zu konfrontieren. Oder einem jungen Lehrer Mut zu machen, seiner Klasse Grenzen zu setzen. Wir schauen auch auf das System Schule: Wenn ich merke, dass sich an einer Schule Gewaltvorfälle häufen oder es besonders viele Meldungen zu Lese-Rechtschreibschwächen gibt, überlegen wir, was an dieser Schule verbessert werden kann und sprechen die Schulleitung an. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Vernetzung.

Worum geht es dabei?

Die multiprofessionelle Kooperation zwischen verschiedenen Hilfesystemen wird immer wichtiger, weil die Probleme vielschichtig sind und nicht nur von der Schule allein zu bewältigen sind. Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter, Erzieherinnen, Polizei und Lehrkräfte müssen zusammenarbeiten. Wenn ein magersüchtiges Mädchen nach einem Klinikaufenthalt in die Schule zurückkommt, müssen sich Ärzte, Psychologen und Lehrer abstimmen. Einen Jungen, der schon in der Grundschule kriminelle Anwandlungen hat, schnappe ich mir gemeinsam mit einem Polizisten. Diese Zusammenarbeit ist nicht immer einfach, weil jede Stelle genaue Vorstellungen hat, was und wie es zu tun ist. Und leider wird noch zu wenig präventiv gearbeitet.

Woran liegt das?

Das liegt vor allem an der Ausstattung. Wir haben zu wenig Schulpsychologen und Sozialarbeiter. In Kopenhagen, Zürich oder den USA ist ein Schulpsychologe für 700 bis 1000 Schüler zuständig, hier in Berlin sind es 4000 bis 5000. Eigentlich bräuchten wir an jeder größeren Schule einen Schulpsychologen, Sozialarbeiter und auch eine Gesundheitssprechstunde – so wie das in vielen Ländern längst selbstverständlich ist.

Jetzt werden Sie pensioniert. Gibt es Fälle, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?

Ich erinnere mich an ein Mädchen, das von zu Hause weggelaufen ist und über Monate auf der Straße gelebt hat. Wir haben es geschafft, sie wieder in die Schule zu integrieren. Sie ertrug es aber nur schwer, Klausuren im Klassenverband zu schreiben. Sie schrieb in einem Extraraum und hat ihren Schulabschluss geschafft.

Aber manchmal sind wir auch machtlos. Einmal ging es um einen Jungen, der offensichtlich autistisch war. Aber seine Mutter wollte das nicht wahrhaben und lehnte alle Unterstützungsmaßnahmen ab. Am Ende wurde das Familiengericht eingeschaltet, es ging um Kindeswohlgefährdung. Das ist sehr unbefriedigend.

Zum Schluss noch ein Wort zu den Zeugnissen, die bald verteilt werden. Wie sollen Eltern auf ein schlechtes Zeugnis reagieren?

Wichtig ist, dass Eltern lange vor dem Zeugnis den Kontakt zur Schule und zu ihrem Kind halten. So können sie einschätzen, wo es Förderung braucht, und das Zeugnis ist dann keine Überraschung. Wenn das Kind faul ist und schlechte Noten hat, kann man für die Ferien einen Arbeitsplan erstellen und durchsetzen, dass jeden Tag eine halbe Stunde gelernt wird. Wenn die schlechten Noten an einer Lernschwäche oder einer Überforderung liegen, sollte man sich beraten lassen.

Und wie reagieren Eltern am besten auf ein gutes Zeugnis?

Wenn ein Zeugnis gut ist, sollte die Leistung anerkannt werden. Besser als Geld zur Belohnung finde ich es, wenn Eltern Zeit für ihre Kinder haben und gemeinsam etwas Schönes unternehmen. Lob und Anerkennung durch die Eltern sind sehr wichtig. Aber es gibt auch Pflichten. Nicht alles muss gelobt werden.

Das Gespräch führte Sylvia Vogt.

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