Aufklärungsworkshops an Schulen: Viele Berliner Schüler kiffen, um dem Alltagsstress zu entfliehen
Auch Apps, Spiele und Internet machen zunehmend abhängig. Die Suchtprävention Berlin klärt in Workshops an Schulen auf – nicht nur Schüler, sondern auch Eltern.
Der 16-Jährige rutschte immer unruhiger auf seinem Stuhl hin und her, es war klar, dass ihn etwas stark beschäftigte. Im ganzen Klassenraum hingen Plakate, alle zum Thema Sucht. Es ging um Alkohol, Tabak, Energy Drinks, aber auf dem Plakat, auf das er starrte, stand „Cannabis“. Sekunden später platzte der Schüler raus: „Oh Shit, jetzt verstehe ich, warum ich Cannabis rauche.“
Eine Schule irgendwo in Berlin, zehnte Klasse, Workshop der Suchtprävention in Berlin. Die Schüler hatten in Arbeitsgruppen zu jedem Suchtmittel Fragen aufgeschrieben. Zu Cannabis: „Warum rauche ich es? Was passiert dabei mit mir? Was ist blöd daran, Cannabis zu rauchen?“ Antworten lieferten die Schüler gleich mit. Warum Cannabis? Wegen des Leistungsdrucks. Weil es entspannt. Weil man dann Schmerzen leichter erträgt, seelische und körperliche.
Die Gruppe des 16-Jährigen hatte sich mit einem anderen Suchtmittel beschäftigt, jetzt hörte er Informationen zu seinem eigenen Problempunkt. Oh Gott, Leistungsdruck, wie er den kannte. „Ich rauche zur Entspannung“, sagte er in der Klasse, „meine Mutter macht so einen Stress wegen Noten. Die Alte nervt. Dann sage ich, dass ich spazieren gehe.“ Dass er dabei kifft, sagt er nicht.
„An Gymnasien ist der Leistungsdruck hoch“
Lydia Römer erzählt die Geschichte, sie war dabei. Jetzt sitzt sie im Büro der Suchtprävention, schwarze Brille, schwarze Haare, Diplom-Sozialarbeiterin, Suchtexpertin, Schwerpunkt Schulen. Hier wird die Arbeit vor Ort organisiert, in Römers Bereich bedeutet das für drei Mitarbeiter: Aufklärung von Eltern, Schülern, Lehrern, Kampf gegen das Verlangen nach Suchtmitteln. Und im Ranking der Probleme liegen zwei Punkte weit vorn. „Cannabis und Medien brennen uns auf den Nägeln“, sagt Christina Schadt, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit der Suchtprävention.
30 Prozent aller Schüler in Berlin, das haben Befragungen ergeben, haben bereits Cannabis geraucht, also gekifft. Oft treibt Druck die Jugendlichen zum Stoff. „An Gymnasien ist der Leistungsdruck hoch“, sagt Lydia Römer. Ehrgeizige Eltern wirken da wie ein Treibsatz. Sie erzählt die Geschichte eines Gymnasiasten, dessen Eltern seinen Alltag durchgetaktet haben, fokussiert auf ein Karriereziel des Sohns. Der Sohn wehrte sich auf seine Weise gegen den Druck: mit dem Griff zu Cannabis.
Aber ein anderes, strukturelles Problem verschärft die Situation noch mehr. Die Atmosphäre der Stadt. „In Berlin lernen doch alle: Hier ist alles cool, hier ist alles frei. So denken doch auch die Erwachsenen. Und für viele ist Alkohol schlimmer als kiffen.“ Kerstin Jüngling beklagt das, die Geschäftsführerin der Suchtprävention. „Wir führen eine Verharmlosungsdebatte und wundern uns dann, dass Kinder- und Jugendpsychiatrie-Einrichtungen überfüllt sind.“
Auch gegen solche Entwicklungen arbeitet die Prävention. Seit 2005 klärt sie auf, unterstützt von der Senatsverwaltung für Gesundheit. Mehr als 4700 Schüler wurden so erreicht, allein 2018 gab es an 57 Schulen Veranstaltungen. 87 Prozent der Schüler haben die Seminare gefallen, zwei Drittel haben Neues erfahren, die Hälfte wurde zum Nachdenken angeregt. An jeweils vierstündigen Elternseminaren nahmen 570 Erwachsene teil, dazu gab es noch Elternabende. Es sind Zahlen der Suchtprävention, aber hinter den Zahlen stecken ja auch Geschichten.
„Dann egal ist, ob mein Vater mich schlägt“
Da ist der Schüler, der sagt, dass er kifft, weil es ihm „dann egal ist, ob mein Vater mich schlägt“. Da sind die Eltern, denen es egal ist, was ihr Kind macht. Da ist der Schüler, der mit Cannabis dem Leistungsdruck entflieht. Schüler erzählen solche Geschichten oft in Workshops, wenn kein Lehrer dabei ist, wenn sie offen reden können, wenn sie sich an das Thema herangetastet haben, nachdem sie erst mal vorsichtig gesagt haben: „Ich kenne jemanden, der geraucht hat.“
Und manchmal kommt ein Schüler erst nach dem Workshop, wenn alle anderen weg sind. Lydia Römer bereitet dafür den Weg. Bei Workshops sagt sie immer wieder: „Ich räume am Ende ganz lange auf. Ihr könnt da zu mir kommen.“
Zuvor aber kommt die Suchtprävention zu ihnen, gerufen von Schulen, aber auch von Eltern. Bislang sind vor allem Oberschulen die Zielgruppe, aber Grundschulen rücken jetzt stärker in den Fokus. Entweder eine Schule fragt bei der Suchtprävention an, oder Lydia Römer und ihre Kollegen gehen auf die Schulen zu. Eine neue Offenheit zeigt sich. „Wir haben in der Vergangenheit oft erlebt, dass Schulen gesagt haben, wir haben kein Problem mit Cannabis“, sagt Lydia Römer. Sie redet von Ober-, nicht von Grundschulen. „Da war oft die Angst vor Stigmatisierung der Schulen, die Angst, dass Eltern zu einer anderen Schule wechseln.“ Der schroffen Ablehnung folgt mehr Verständnis. Immer mehr Schulen erkennen, dass Wegschauen nichts bringt.
Die Sucht nach neuen Medien ist brandaktuell
Schulleitungen kommt bei dieser Prävention eine entscheidende Rolle zu. Wenn Eltern bei der Suchtprävention anfragen, müssen die Rektoren sowieso eingebunden werden. Aber die können ja unterschiedlich reagieren. An jeder Schule gibt es zwar Kontaktlehrer für schulische Prävention. Nur sind die halt ins System eingebunden. „Wenn ein Kontaktlehrer für die Sache brennt, aber ein Schulleiter nicht, dann ist es sehr schwer“, sagt Lydia Römer. Ein Rektor könne zum Beispiel Schüler zu den Workshops verpflichten. Die sollen nach dem Wunsch der Suchtprävention im Unterricht stattfinden.
Kerstin Jüngling hat produktive Ideen, wie man im Unterricht das Thema Sucht einbinden könnte, Cannabis etwa. „Das geht unter verschiedenen Gesichtspunkten in vielen Fächern, in Erdkunde, in Englisch, aber auch in Deutsch.“ Es ist ihre Antwort auf die Aussage vieler Lehrer, sie müssten ihren Lehrplan durchziehen, sie hätten keine Zeit für Zusatzinformationen zum Thema Sucht.
Kiffen ist ein uraltes Thema, der Suchtcharakter von neuen Medien dagegen ist brandaktuell. „Das Problem mit dieser Sucht ist allmählich so groß wie das mit Cannabis“, sagt Lydia Römer. Die Suchtprävention empfiehlt bei Kindern bis fünf Jahren eine maximale Nutzung von 30 Minuten pro Tag, bei Sechs- bis Neunjährigen 60 Minuten pro Tag, und ab zehn Jahren sollte es Wochenkontingente geben. Faustregel: Pro Lebensjahr eine Stunde pro Woche. Warnsignale sind eigentlich nicht zu übersehen: Die Schulleistung nimmt ab, das Kind trifft keine Freunde mehr, es zieht sich zurück, es reagiert enorm unwirsch.
Ein spezielles Problem beschäftigt zunehmend Lydia Römer und ihre Kollegen. Das Suchtverhalten in Familien. Vor allem Sozialarbeiter und Lehrer aus Grundschulen melden sich. Eltern mit Alkoholfahne, die ihre Kinder abholen, sind ein Alarmzeichen. Die Suchtprävention bietet deshalb kostenfreie Workshops in Kiezen in sozial schwierigen Gebieten an. Das ist wohl auch dringend nötig. „Die Anfragen dazu überrollen uns“, sagt Lydia Römer.
Infos zur Suchtprävention: www.berlin-suchtpraevention.de
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