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Rund 2000 Lehrer und einige hundert Erzieher sollen künftig mehr Geld verdienen.
© Bernd Weißbrod/dpa

Debatte über Bildung in Berlin: Politik als Schulfach – auf wessen Kosten?

Die Schüler wollen es seit Langem, und die rot-rot-grüne Koalition nun auch: Die Einführung eines Schulfaches Politik. Doch welche Fächer sollen auf Stunden verzichten? Was Geografie-, Ethik- und Geschichtslehrer fordern, schreiben sie hier.

Am 30. Mai berichteten wir über die Bestrebungen der rot-rot-grünen Koalition, ein eigenständiges Schulfach Politik zu schaffen. Dafür müssten eventuell Stunden bei den Fächern Ethik, Geschichte oder Geografie gekürzt werden. Bei den Fachlehrerverbänden sorgte diese Ankündigung für Unruhe. Am Mittwoch soll es dazu ein Gespräch mit Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) geben. Wir veröffentlichen die Positionen der Geografie-, Ethik- und Geschichtslehrerverbände.

„GEOGRAFIE IST VIEL MEHR ALS STADT-LAND-FLUSS“

Welche dieser Hauptstädte liegt nicht in Osteuropa: Kiew, Minsk, Chisinau oder Riga? Nein, auf Quiz-Fragen nach diesem Muster müssen Schüler nicht unbedingt antworten können, wenn sie Geografieunterricht hatten – guten Unterricht. Denn der bietet mehr als lexikalisches Wissen zu Stadt-Land-Fluss. Er bereitet nicht auf das Lösen von Kreuzworträtseln vor. Zeitgemäße Schulgeografie fragt etwa danach, wie das Konstrukt „Osteuropa“ überhaupt entstanden ist, wie unterschiedlich Grenzziehungen begründet werden können oder welche Rolle die Ressource Süßwasser spielt.

Moderne Geografie lehrt durchaus die Lage der Städte, den Lauf der Flüsse, den Verlauf von Grenzen. Doch in erster Linie lehrt sie das Verständnis für das Entstehen der geografischen und politischen Gegebenheiten. Geografie liefert das Basiswissen zu geopolitischen Fragen der Gegenwart des Planeten, auf dem wir leben, und von dem täglich – Stichwort Globalisierung! – die Rede ist.

Obwohl solches Wissen hochrelevant ist, wird das Fach Geografie mehr und mehr an den Rand der Lehrpläne gedrängt. Mit jeder Neuverteilung des Stundenpools machen wir Geografielehrer uns mehr Sorge um unser Fach, das inzwischen oft mit nur einer Schulstunde in der Woche oder sogar mit noch weniger Zeit auskommen soll.

Wie kam es dazu? Ehe in Berlin vor zehn Jahren das neue, sinnvolle Fach Ethik eingeführt wurde, stand Geografie mit zwei Stunden pro Woche auf dem Lehrplan. Eine der beiden Stunden musste dann dem neuen Fach weichen. Seither bleibt Geografie-Lehrern nur eine einzige Stunde pro Woche, um bei Lernenden das Verständnis für die komplexe Beschaffenheit der Erde und für die geopolitische Dynamik in Städten und agrarisch geprägten Räumen zu wecken.

Nun soll das Fach eventuell sogar noch weiter geschrumpft werden. Der Schulsenat denkt, durchaus mit gutem Grund, daran, das Fach Politik neu einzuführen beziehungsweise wiederzubeleben. Erforderlich wäre dafür entweder mindestens eine zusätzliche Stunde Unterricht pro Woche – oder aber das Opfern einer Wochenstunde eines anderen Faches. Wir Lehrende der Geografie warnen vor einem fatalen Kahlschlag unseres Fachs.

Eine Kürzung des Faches würde den globalen, interkulturellen Blick und damit den Horizont der Lernenden einschränken. Denn der Geografie der Gegenwart geht es unter anderem darum, für Beruf und Alltag relevante Kernkompetenzen zu entwickeln: Orientierung, systemisches Denken, ausgewogenes Urteilen. So lassen sich zum Beispiel für Berlin-Brandenburg aktuelle Themen konkret bearbeiten: Wie sehen Konflikte um die Raumnutzung aus, wenn sich Wohnungsmärkte und Speckgürtel gentrifizieren? Oder wir fragen nach Ursachen und Folgen von Klimawandel, nach globalen Ressourcenkonflikten.

Geografieunterricht an Berlins Oberschulen bezieht heute insbesondere Lernende mit Migrationshintergrund ein, deren Herkunft und Geschichte exzellente Quellen für integrativen Unterricht bieten. Lernende können zu Experten der Gegebenheiten und Entwicklungen ihrer Herkunftsländer werden und ihre Migrationskontexte klarer erkunden und erfassen. Darüber hinaus eignet sich gerade Geografie exzellent für das kognitive Bearbeiten tagesaktueller Geschehnisse. Flucht, Terror, Armut und Verstädterung, alle Schlüsselprobleme der Gegenwart können auf der Basis der Geografie interdisziplinär diskutiert werden.

Gemeinsam mit Geschichte, Politik und Ethik trägt Geografie zentral dazu bei, eine Generation heranzubilden, die versteht, wo und wie sie lebt, wo und wie andere leben, und auf welche Weise man aktiv an Lösungen mitwirken kann. Ohne reelle, geografische Basis bleibt etwa das Fach Politik im virtuellen Raum – aus dem wir unsere Jugendlichen ja herausholen wollen in die Wirklichkeit, die sie mitgestalten werden.

Dr. Alexander Enders, Verein Berlin-Brandenburger Schulgeografie (VBSG e.V.)

Was die Ethiklehrer fordern

„DAS WERTEFACH ETHIK DARF NICHT GESCHWÄCHT WERDEN“

Der Fachverband Ethik Berlin begrüßt die Vermittlung politischer Kenntnisse in der Sekundarstufe I nachdrücklich. Dieses wichtige Anliegen muss zunächst aber auf dem Wege der konsequenten Umsetzung des neuen Rahmenlehrplans verfolgt werden, der ab dem Schuljahr 2017/2018 in Kraft tritt. Oberstes Ziel des Reformvorhabens ist es, den fächerübergreifenden Unterricht zu stärken.

Der neue Rahmenlehrplan schreibt dreizehn „übergeordnete Themen“ vor, die in allen Einzelfächern Berücksichtigung finden müssen. Davon gehören allein sechs Themen zum Bereich der Politik. Das sind unter anderem „Demokratiebildung“, „Europabildung“ und „Lernen in globalen Zusammenhängen“. An der Umsetzung dieser verbindlichen Vorgaben wird zurzeit an allen Berliner Schulen eifrig gearbeitet.

Den laufenden Prozess der Implementierung des neuen Rahmenlehrplans bereits vor Inkrafttreten durch eine Veränderung der Stundenverteilung zu beunruhigen, wäre ein fragwürdiger Aktionismus. Mit den gesellschaftswissenschaftlichen Bildungsfächern darf in Berlin nicht immer wieder wie mit einem Nullsummenspiel verfahren werden – hier wird etwas hinzugegeben, dort wird etwas weggenommen.

Auch die Fächer Geschichte und Geografie sind wichtige und unerlässliche Partner im Verbund der Gesellschaftswissenschaften! Sollte es tatsächlich zu der Entscheidung kommen, Politik als neues Unterrichtsfach einzuführen, so wäre die Stundentafel für den Bereich Gesellschaftswissenschaften zu erweitern. Dessen gesamtes Stundenvolumen liegt in Berlin nämlich mit fünf Wochenstunden, einschließlich Sozialkunde/Politischer Bildung, im Vergleich zu den anderen Bundesländern an der untersten Grenze.

Nun zum Fach Ethik selbst. Die Einführung des Faches war von Experten und einem breiten Bündnis gesellschaftlicher Kräfte und Organisationen gefordert und unterstützt worden. Der Ethikunterricht holt wie kein anderes Fach die Schülerinnen und Schüler in ihrer Lebenswelt ab. Er leistet Demokratiebildung, indem er kulturelle Unterschiede, soziale Lern- und Lebensbedingungen, Mediennutzung, Konfliktursachen und Träume von einer besseren Welt am konkreten Erleben der Jugendlichen untersucht und kritisch reflektiert.

Wegen der Bedeutung der sozialen Prozesse und zum Aufbau einer konstruktiven und Vertrauen fördernden Arbeitsatmosphäre war es von Anfang an klar, dass selbst der zugewiesene zeitliche Rahmen von 90 Minuten pro Woche schon sehr eng bemessen ist. Momentan erreichen ausgebildete Ethiklehrkräfte von den Universitäten vermehrt die Schulen. Das Fach zehn Jahre nach seiner Einführung wieder zu schwächen, würde den in Gang befindlichen Konsolidierungsprozess erheblich gefährden.

Die Bundeselternschaft hatte sich nach der Einführung von Ethik in Berlin für ein verbindliches Wertefach in ganz Deutschland ausgesprochen: „Wir wünschen uns einen gemeinsamen, alle Religionen und Kulturen thematisierenden Unterricht für alle Kinder – unabhängig von ihrer Herkunft. (…) Es ist heute wichtiger denn je, Werteverluste aufzufangen und Wertebildung neu zu fördern.“ (Resolution des Bundeselternrates vom 11.11.2007). Hinter diese Errungenschaft sollten wir in Berlin nicht zurückgehen.

Dankfried Gabriel ist Vorsitzender des Fachverbands Ethik Berlin. Er schrieb diese Position im Namen des Vorstands.

Was der Geschichtslehrerverband fordert

„DIE HISTORISCHE UND POLITISCHE  BILDUNG MUSS GESTÄRKT WERDEN“

Angesichts der aktuellen politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen auf nationaler, europäischer und globaler Ebene (unter anderem Populismus, Terrorismus, Nato-Krise, IS) müssen der Geschichts- und Politikunterricht nachhaltig gestärkt werden. Deshalb begrüßen wir die Forderung des Landesschülerausschusses Berlins (LSA), die historisch-politische Bildung an Berliner Schulen auszuweiten. Seit Jahrzehnten wird das Fach Sozialkunde in Verbindung mit Geschichte an Berliner Schulen mit eigenem Rahmenlehrplan unterrichtet. Im neuen Schuljahr wird Sozialkunde durch das Fach Politische Bildung abgelöst.

Wir teilen die Einschätzung des LSA, dass für Geschichte und Politische Bildung zu wenig Zeit zur Verfügung steht. Der neue Lehrplan bietet über die „übergreifenden Themen“ beispielsweise im Bereich Demokratie- und Europabildung oder Diversity und Interkulturelle Bildung und Erziehung vielfältige Möglichkeiten, um historisch-politische Bildung umzusetzen. Im Moment wird dies an allen Schulen durch die Erstellung der schulinternen Curricula verbindlich festgelegt. Dadurch entsteht bereits mehr Zeit für historisch-politische Bildung.

Die Innovationskerne des neuen Rahmenlehrplans kommen im neuen Schuljahr zum ersten Mal zum Tragen. Die Kollegen an den Schulen haben in den vergangenen anderthalb Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Vorgaben auch für das Fach Politische Bildung zu implementieren. Diese Arbeit muss nachhaltig gewürdigt werden.

Guter Geschichts- und Politikunterricht setzen eine angemessene Unterrichtszeit voraus. Die Überlegungen des LSA, die historisch-politische Bildung im Stundenumfang auszuweiten, unterstützt der Geschichtslehrerverband Berlin deshalb nachdrücklich: Das Fach Geschichte/Politische Bildung sollte mit zwei Stunden in allen Schulformen (Gymnasium und ISS) von Klasse 7–8 unterrichtet werden. Und wie vor 2006 sollte das Fach Geschichte/Politische Bildung in den Klassen 9–10 dreistündig unterrichtet werden.

Einerseits wird so den Schülerinnen und Schülern ein besseres Verständnis der seit 2006 ja nicht weniger komplex gewordenen Herausforderungen unserer Zeit ermöglicht, andererseits vertieftere historisch-politische Bildung als bisher garantiert und gleichzeitig gewährleistet, dass die historisch-politische Bildungsgrundlage für die Fächer Politikwissenschaft und Geschichte in der Oberstufe wie fürs weitere Leben nachhaltig gefestigt ist.

Peter Stolz ist Berliner Landesvorsitzender im Verband der Geschichtslehrer Deutschlands e.V.

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