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Etliche Klassenräume bleiben bis Ostern leer.
© Kay Nietfeld/dpa

Neuköllner Grundschule in der Coronakrise: „Nur ein Drittel unserer Eltern hat überhaupt einen digitalen Anschluss“

Telefonate mit Eltern, Aufgaben für die Kinder, Sorge um die Erstklässler: Wie eine Neuköllner Grundschule während der Schließung weiterarbeitet.

Uwe Schippmann streicht derzeit die Mädchentoiletten, deshalb ist sein blauer Arbeitsoverall mit weißen Farbspritzern übersäht. 

Aber jetzt steht er im Eingang der Grundschule in der Köllnischen Heide, neben der kleinen, verwaisten Empfangskabine, in der nur eine Brille auf dem Tisch liegt. 

Die Schule ist leer, alle Kinder sind zu Hause, für Hausmeister Schippmann ein ganz besonderer Vorteil. „Ich kann jetzt in aller Ruhe Dinge machen, die ich sonst im stressigen Schulalltag erledigen müsste.“

„Ich mache hier gerade archäologische Arbeit“

Zwei Etagen höher, in einem Flur, an dessen Wand das Foto des Straßenschilds „Busseallee“ hängt, sitzt Astrid-Sabine Busse hinter ihrem Schreibtisch. 

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Auf dem Konferenztisch steht eine Vase mit Tulpen, in der Ecke flitzen kleine Fische durch ein voluminöses Aquarium. „Ich mache hier gerade archäologische Arbeit“, sagt Astrid-Sabine Busse. „Ich sortiere aus, ich gehe Unterlagen durch.“

Als ehemalige Schulleiterin weiß Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse, wo die Risiken der ausgesetzten Präsenzpflicht liegen.
Als ehemalige Schulleiterin weiß Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse, wo die Risiken der ausgesetzten Präsenzpflicht liegen.
© Frank Bachner

Die 62-Jährige leitet die Schule in einem sozialen Brennpunkt Neuköllns, sie muss anwesend sein, ebenso wie ihr Konrektor. Vorschrift für Führungspersonal. 

Aber alle anderen Mitarbeiter der Schule könnten zu Hause bleiben. In Zeiten der Coronakrise, da alle Schulen geschlossen sind, gelten besondere Regeln.

Mehr als 100 Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher, Schulhelfer und andere Personen arbeiten in der Schule, an diesem Tag sind zehn im Gebäude, darunter Uwe Schippmann, der Hausmeister. 

Die Sekretärin von Astrid-Sabine Busse gehört auch dazu, man hört sie reden, die Tür zum Büro der Leiterin steht offen.

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Der Schulbetrieb läuft ja weiter, nur anders als sonst. Alle Schüler haben Lernmaterialien oder Bastelarbeiten mit nach Hause bekommen. 

Auf dem Deckblatt der Unterlagen für die Klasse 3d steht zum Beispiel: „Es ist auch möglich, online die verschiedenen Lernprogramme für Kinder zu nutzen. Vielleicht schreibt ihr am Computer-Schreibprogramm mal einen Brief oder eine Geschichte.“

„Bei welchen Aufgaben gibt es Schwierigkeiten?“

Für viele Eltern ist es ein Segen, wenn sie anrufen und sie erwischen den zuständigen Lehrer gerade an der Schule, weil der seine Post sortiert oder andere Dinge erledigt. 

„Einige Eltern rufen mehrfach in der Woche an“, sagt Astrid-Sabine Busse. „Sie haben Fragen, weil ihr Kind eine Aufgabe nicht versteht oder ein anderes Problem mit dem Lernmaterial hat.“ 

Manche wollen auch gleich ihr Kind für ein oder zwei Stunden zur Nachhilfe vorbeischicken. Geht aber leider nicht. Ist der betroffene Lehrer doch nicht da, ruft ihn die Schulleiterin an. Der meldet sich dann schnellstmöglich bei den Eltern.

Die Zahl solcher Anrufe hält sich allerdings in Grenzen, dafür sorgt schon die vorbeugende Fürsorge der Schule. Die Lehrer rufen mehrfach in der Woche von sich aus bei ihren Schülern beziehungsweise deren Eltern an. 

Sie fragen dann: „Gibt es Probleme?“, „Bei welchen Aufgaben gibt es Schwierigkeiten?“

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Der Hinweis auf das digitale Lernprogramm ist ja schön und gut, aber ohne Internetanschluss ist es so viel wert wie eine zerrissene Fahrkarte. 

„Nur ein Drittel unserer Eltern hat überhaupt einen digitalen Anschluss“, sagt Astrid-Sabine Busse. „Natürlich bieten ARD und ZDF jetzt Lernfernsehen an, aber diese Kanäle müssen viele Eltern erst mal auf ihrer Fernbedienung programmieren.“ 

Mehr als 90 Prozent ihrer Schüler haben einen Migrationshintergrund. Da ist der persönliche Kontakt enorm wichtig. „Die Eltern freuen sich über jedes Gespräch und jedes aufmunternde Wort“, sagt Astrid-Sabine Busse.

Eine Mitarbeiterin hat ein gesundes Baby geboren

Vor ihr liegt die Liste der täglichen Rufbereitschaft. Für jeden Tag sind mehrere Namen aufgeführt. Die Schule muss ja, wie alle anderen Schulen auch, eine Notbetreuung für Eltern sicherstellen, die in systemrelevanten Berufen arbeiten. 

Es gibt diverse Väter und Mütter in Astrid-Sabine Busses Bereich, die solche Jobs haben. Überraschenderweise hatte jedoch zunächst niemand dieses Angebot angenommen. Inzwischen wurden zwei Kinder dafür angemeldet.

Sie macht nun Dinge, zu denen sie sonst nicht kommt

Sabine Schmidt ist an diesem Tag auch in der Schule, freiwillig. Ostern steht vor der Tür, die Integrationserzieherin hat gerade mit einer Lehrerin Bastelarbeiten herausgesucht. 

Die werden jetzt an die Kinder verschickt, „damit sie die Feiertage gut überstehen“. Sie gehört auch zu denen, die diese Phase durchaus auch als Zeit der Entschleunigung genießen können. „Ich sortiere jetzt kaputte Spiele aus, ich mache jetzt Dinge, zu denen ich sonst nicht komme.“

Kleine Gesten für eine gute Atmosphäre

Die Schulleiterin verstärkt die entspannte Atmosphäre mit kleinen Gesten. Mal verkündet sie über die Lautsprecheranlage, „dass es frischen Kaffee gibt“, mal schreibt sie im Mitarbeiterchat: „Charlotta-Marie ist jetzt auf der Welt.“ 

Eine Mitarbeiterin hat ein gesundes Baby geboren. Und gegrillt hat das Kollegium auch, im Schulhof, einzeln, nicht als Gruppenevent.

Die Erstklässler machen der Schulleiterin Sorgen

Doch die Corona-Phase hat für die Schulleiterin natürlich nicht bloß Happy-Hour-Charakter. Je länger sie dauert, umso mehr pädagogischer Schaden droht. 

„Bei den Viert- und Fünftklässlern ist es nicht so schlimm, wenn sie drei oder vier Wochen später als geplant etwas über Artenvielfalt erfahren“, sagt sie, „aber die Erstklässler machen mir Sorgen. Da sind drei Wochen schon lang. Wir können ja nicht einfach sagen, wir lassen jetzt mal die Buchstaben weg.“

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Also, welche Ausfallzeit kann man gerade für diese Gruppe der Jüngsten kompensieren? Astrid-Sabine Busse presst die Lippen zusammen und blickt in die Tiefe ihres Zimmers. 

„Da bin ich überfragt“, antwortet sie, „so einen Fall hatten wir ja noch nie.“ Die Zuwendung am Telefon, der fernmündliche Draht zu den Schülern und Eltern, der hilft nur kurze Zeit, das zumindest steht fest.

Uwe Schippmann hat es heute nicht eilig

In der Mediathek der Schule, zwischen Regalen mit Infomaterial zu Klima, Wetter und Weltreligionen, sitzt ein weiterer Mitarbeiter der Schule, Kugelschreiber in der Hand, aufgeblätterte Bücher vor sich. 

Auch er müsste nicht hier sein, auch er ist freiwillig gekommen. Na ja, nicht ganz freiwillig. Er studiert Sozialarbeit, er muss sich auf einen Vortrag über Inklusion vorbereiten.

Hier ist es ruhig – zu Hause nicht

Hier hat er Ruhe. Zu Hause nicht. „Da sind die Kinder zu laut“, sagt er und grinst, „da kann ich nicht arbeiten.“

Uwe Schippmann, der Hausmeister, ist inzwischen im Sekretariat aufgetaucht. Er wird gleich die Ausgangspost wegbringen, aber ganz entspannt. „Ich habe es heute ja nicht eilig“, brummt er.

Die Schulschließung hat ja noch einen anderen Vorteil für ihn. „Ich kann jetzt mein Werkzeug stehen lassen und finde es wieder, wenn ich zurückkomme.“

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