Projekt gegen Antisemitismus: Konfrontation mit der Geschichte
Bei dem Workshop "7 x jung" lernen Schüler, was Antisemitismus, Verfolgung und Ausgrenzung bedeutet. Das Angebot setzt auf empathisches Begreifen und will die Schüler sensibilieren. Denn antisemitische Vorurteile sind noch immer verbreitet, auch auf Schulhöfen.
Es ist ein Bild totaler Verwüstung: Tisch Bett und Stühle sind zertrümmert. Den Teppichboden bedeckt eine Schicht aus Federn, zerrissenen Postern, Kleidungsstücken, verstreuten Puzzleteilen, Stiften und Fantasy-Sammelkarten. 13 Jugendliche drängen sich um zwei Fenster, durch die man in den zerstörten Raum hineinsehen kann. „So sieht’s bei mir auch aus“, sagt Nazim betont cool. Neben den Fenstern stehen auf zwei Tafeln die Geschichten von Robert Goldmann und Mucki Koch, die in den Dreißiger Jahren als Jugendliche erlebten, wie SA-Leute ihre Zimmer zerstörten. Der Vater des einen war Kommunist, der des anderen Jude. „Ich wär’ auf die losgegangen, wenn die das mit meinem Zimmer gemacht hätten“, sagt ein besonders schmächtiger blonder Junge. Und dann diskutieren sie darüber, was dann wohl passiert wäre.
Die 13 Zehntklässler von der Johann-Thienemann-Schule, eine der letzten Hauptschulklassen an der Integrierten Sekundarschule, besucht gerade die Ausstellung „7 x jung – Dein Trainigsplatz für Zusammenhalt und Respekt“ in den S-Bahnbögen neben dem Bahnhof Bellevue. Ihr Lehrer Elmar Endejahn hat einen vierstündigen Workshop gebucht, um die Schüler ans Thema Nationalsozialismus heranzuführen. Er sei spät dran damit, eigentlich hätte er es längst durchnehmen sollen.
„Die Workshops und die Ausstellung sind eine andere Form der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“, sagt Sophia Oppermann vom Verein „Gesicht zeigen!“, der die Ausstellung ins Leben gerufen hat. Die Schüler sollen die Geschichte nachempfinden und den Weg ins Heute suchen. Denn viele Jugendliche haben das Gefühl, dass sie diese Zeit nichts angeht, weil sie so weit weg ist.“ Für Schüler ab der 6. Klasse bis zum Abitur sei die Ausstellung geeignet – für alle Schultypen. „Es hat sich aber ein bisschen rumgesprochen, dass die Workshops mit unserem nicht so kognitiven Ansatz sehr geeignet für Hauptschüler, Schulferne und Schulabbrecher sind“, sagt Oppermann.
Mein Familie, mein Sport, meine Musik - und „Mein Zimmer“ so heißen einige der sieben Themenräume in den S-Bahnbögen. Auf großen Kissen in entspannter Haltung geht es neben der Installation vom zerstörten Raum los. Was die Schüler von dem Besuch in der Ausstellung erwarten, will Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Anschütz wissen, die den Workshop leitet: „Na das wir das Leben von einem Juden kennenlernen“, sagt Yasmin (Name geändert), eine der Wortführerinnen der Klasse. Es klingt gelangweilt. Nein, allein darum wird es in den vier kommenden Stunden nicht gehen. „Habt ihr eine Idee, warum sich die Nazis die Juden als Gegner ausgesucht haben?“ , fragt Anschütz vor dem zerstörten Zimmer. „Weil die so reich und erfolgreich waren“, glaubt Yasmin. Anschütz schüttelt den Kopf, erklärt ihr, dass es viele gab, die einfache Berufe hatten und erzählt wie die Vorurteile im Mittelalter entstanden und immer weiter getragen wurden. Und dann fällt die 16-Jährige aus allen Wolken, als sie erfährt, dass zu Beginn der 30er Jahre nicht 50, sondern nur 0,8 Prozent der Bevölkerung jüdisch war.
Unwissenheit und alte Klischees sind Teil des Antisemitismus, der auf Berliner Schulhöfen anscheinend noch immer Alltag ist – auch wenn die Schoah ausführlich im Unterricht behandelt und Besuche in Konzentrationslagern und anderen Gedenkstätten ganz selbstverständlich dazugehören. Zwanzig Prozent der Deutschen, zu dem Schluss kommt eine aktuelle Studie des Innenministeriums, zeige antisemitische Tendenzen. Zur Prävention sei emotionale Bildung notwendig, meinen die Autoren. Sie empfehlen, Schüler zu sensibilisieren. Genau das versucht die Ausstellung.
In Vitrinen im zweiten Raum, liegt Schokolade und Seife – wie wertvolle Kunstobjekte präsentiert. „Mein Laden“ heißt dieser Abschnitt. Hier geht es um Boykotte und Verbote. Kulturwissenschaftlerin Anschütz teilt die Schüler in sechs Gruppen ein. Jeder Gruppe ist etwas verboten: Süßigkeiten; Seife; Fleisch, Wurst, Milch und Eier; Telefon; das Einkaufen vor 16 Uhr und nach 17 Uhr. „Was bedeutet das im Alltag?“, fragt Anschütz und erklärt auch noch, dass Juden damals Zwangsarbeit leisten mussten und selbst in dieser einen Stunden keine Zeit zum Einkaufen hatten. „Und woher hatten sie dann etwas zu essen, wenn sie nicht einkaufen konnten?“, will Nick wissen. „Sie lebten wohl vom absoluten Minimum“, überlegt Hassan. Da dämmert es ihnen langsam, wie menschenunwürdig jenes Dasein damals war. Und wie ausweglos. „Konnte man nicht einfach konvertieren?“, will einer wissen. „Stand das denn auch im Ausweis?“, ein anderer. Sie wirken alle so interessiert und aufmerksam, dass ihr Lehrer ganz erstaunt ist. Kevin fällt auf, dass man damals als 15-Jähriger Jude wohl keine Chance hatte, eine Ausbildung machen zu dürfen. Er wirkt leicht geschockt.
Und da viele der Schüler Muslime sind, wollen sie wissen, ob die von den Nazis auch verfolgt wurden. „Es gab nicht viele“, sagt Elisabeth Anschütz. „Aber ein paar Araber wurden als Arier eingestuft und kämpften in der SS mit.“ Hassan kann es kaum glauben: „Warum hatten die Nazis denn nur einen Hass gegen die Juden und nicht gegen die Muslime? Das ist doch auch eine andere Religion.“
Im Sportraum nebenan setzen sich die Jugendlichen nebeneinander auf Turnhallenbänke. Über ihnen hängen Fotos einer Wasserballmannschaft. „Neulich hatten wir eine sehr schwierige Gruppe aus Brandenburg mit Tendenz zum Rechtsextremismus“, sagt Anschütz. „Die wollten wissen, ob das alles Juden sind auf en Fotos und haben über die Länge der Nasen diskutiert.“ Sie hat dann die Vorurteile aus den Schülern „herausgekitzelt“. „Es ist schon ein Anfang, sie zu benennen.“ An sechs Hörstationen lernen die Jugendlichen gleichaltrige Juden aus der NS-Zeit kennen, die von Diskriminierung im Sport berichten. Dann sollen sie die Geschichten nach erzählen. „Gerds bester Freund Peter ist Jude“, berichtet Yasmin. "Sie spielen zusammen Fußball, aber Gerds Vater verbietet die Freundschaft.“ Was die Kernaussage dieser Geschichte ist? „Dass man bei Freunden nicht nach der Religion gehen soll“, sagt das Mädchen nachdenklich. Am Ende des Workshops wird sie fragen, warum eigentlich andere Länder so wenige jüdischen Flüchtlinge aufgenommen haben. Auch Hassan hat einiges gelernt: „Ich hab‘ jetzt einen ganz anderen Eindruck von Juden. Es ist schon hart, zu hören, was die erlebt haben.“ Und Benjamin, 17, ist ganz still geworden. Leise sagt er: „Die Geschichte von Gerd und Peter war einfach herzergreifend.“
Informationen unter www.7xjung.de