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Viel zu tun. Die meisten Schüler bekommen Hausaufgaben auf.
© imago

Lernen nach dem Unterricht: „Hausaufgaben sind pädagogischer Unsinn“

Sie verleitet Kinder zum Lügen und setzt Eltern unter Druck: Autor Armin Himmelrath lässt kein gutes Haar an der Heimarbeit. Ein Interview

Herr Himmelrath, was regt Sie eigentlich so an Hausaufgaben auf?

Sie bringen Unfrieden in die Familien, zwingen Kinder zum Lügen und haben keinen pädagogischen Nutzen. Ich habe drei Kinder, und das Thema begleitet uns, seit das erste Kind in die Schule gekommen ist. Zusammen sind das jetzt 32 Jahre Hausaufgabenerfahrung.

Was haben Sie dabei als Vater erlebt?

Ich fühlte mich zum Hilfsmittel der Lehrer degradiert. Die Kinder machten die Hausaufgaben ja meistens nicht freiwillig. Also musste ich einen Druck machen, der mir gar nicht zusagte. Eine schöne Rolle ist das nicht, und ich sehe meine Aufgabe als Vater auch nicht darin, die Sanktionsandrohungen der Lehrer weiterzugeben. Denn oft heißt es ja: Wenn du die Hausaufgaben nicht machst, bekommst du eine schlechte Note. Das ist eigentlich schwarze Pädagogik.

Die die Kinder zum Lügen zwingt?

Ja, und zwar gegenüber den Eltern und den Lehrern. Zu Hause sagen sie, dass sie nichts aufhaben, und in der Schule erfinden sie Ausreden, warum sie keine Hausaufgaben machen konnten. Manchmal machen sogar die Eltern die Hausaufgaben für die Schüler. Schon bei Zweitklässlern kommt das vor, sagte mir eine Grundschullehrerin. Auch dann müssen die Kinder in der Schule lügen.

Sie schreiben, dass das Thema bereits seit Jahrhunderten diskutiert wird.

Das hat mich auch überrascht. Schon in Schulordnungen aus dem 15. Jahrhundert geht es um Hausaufgaben. Seit 1880 gab es immer wieder wissenschaftliche Untersuchungen zu Hausaufgaben. Und nirgendwo habe ich einen Beleg dafür gefunden, dass sie etwas bringen. Im besten Fall schaden sie nicht. Meist sind sie einfach Unsinn.

Worin besteht der Unsinn?

Es kostet wertvolle Unterrichtszeit, die Aufgaben zu besprechen, zu vergeben und ihnen hinterherzujagen. Es ist ja auch meistens gar nicht möglich, die Hausaufgaben ausführlich zu besprechen oder jedem ein individuelles Feedback zu geben. Wenn’s hochkommt, setzt der Lehrer hinter jede Aufgabe ein Häkchen. In einer Stunde kommen vielleicht zwei oder drei Schüler mit den Hausaufgaben dran. Die anderen lernen dadurch, dass ihre Arbeit eigentlich egal war. Jedenfalls nicht wichtig für den Unterricht.

Sie schreiben zudem, dass Hausaufgaben sozial ungerecht seien. Das bemängelt beispielsweise auch die Soziologin Jutta Allmendinger.

Bei Hausaufgaben kommt es entscheidend auf die Eltern an. Der Lehrer schiebt die Verantwortung auf diese ab. Und zwar egal, ob es sich um ungelernte Arbeiter oder eine Professorenfamilie handelt. Das sind doch ganz unterschiedliche Ausgangsbedingungen! Und das führt dann oft dazu, dass die Schüler, die etwas aufzuholen hätten, keine Hausaufgaben machen. Und diejenigen, die sie vielleicht gar nicht bräuchten, machen sie regelmäßig.

Was ist mit der These, dass sich der Lernstoff nur durch Wiederholung festigen kann?

Am besten lernen Schüler, wenn sie eine hohe Motivation haben. Meine Kinder können besser Englisch als ich, weil sie das über ein Computerspiel gelernt haben, das sie brennend interessiert. Wenn man Vokabeln nur lernt, weil man Angst vor einer Strafe oder schlechten Note hat, läuft es verkehrt und es bringt auch langfristig nicht so viel.

Aber warum sind dann so viele Lehrer, aber auch Eltern und Schüler davon überzeugt, dass Hausaufgaben sein müssen?

Das ist schon seltsam. Ich glaube, die Vorstellung, dass Hausaufgaben zu Schule dazugehören, ist so tief ins kollektive Bewusstsein eingesickert, dass keiner mehr fragt, ob das auch sinnvoll ist. Eigentlich sind nämlich alle, egal wen man fragt, unzufrieden mit der Situation. Ein Lehrer sagte mir mal, dass er seit vierzig Jahren unterrichtet und in all der Zeit habe es einfach nie funktioniert mit den Hausaufgaben.

Was schlagen Sie als Alternative vor?

Hausaufgaben müssten zurück an die Schule verlagert werden. Die Aufgaben sollten nicht pauschal vergeben werden, sondern nur dann, wenn sie für den Unterricht sinnvoll sind und die Schüler so ihre Wirksamkeit erfahren. Ein solches neues Konzept kann im Rahmen der Ganztagsschulen besser verwirklicht werden. Schulen, die es ohne Hausaufgaben probieren, berichteten mir übrigens von erstaunlichen Ergebnissen.

Zum Beispiel?

In einer Grundschule in Braunschweig sollten die Schüler jeden Tag eine Viertelstunde zu Hause lesen. In den bildungsnahen Familien fand das auch statt, in den bildungsfernen Familien aber so gut wie nie. Die Schule entschied dann, dass die dritte Stunde für die gesamte Schule um eine Viertelstunde verkürzt wird. In der Zeit lesen jetzt alle. Am Anfang gab es riesigen Widerstand, auch von den Lehrern. Aber mittlerweile sehen alle, wie groß der Fortschritt der Kinder beim Lesen ist und dass das ein Gewinn für alle Fächer ist.

Was halten Sie von Referaten?

Ich finde die prinzipiell sehr gut. Da können Schüler lernen, sich Wissen selbstständig zu erarbeiten, und sie sehen, dass ihre Resultate wichtig für den Unterricht sind. Aber auch Referate kann man zurück an die Schulen verlagern. Dafür muss es dort geeignete Räume und Kapazitäten geben. Ich weiß von einem Gymnasium in der Schweiz, das keine Hausaufgaben mehr aufgibt. Stattdessen machen die Schüler jetzt in der ersten Stunde sogenannte Schulaufgaben. Sie lernen selbstständig, aber es sind immer Lehrer in der Nähe. Das ist ein viel besseres Lernsetting als zu Hause.

Was sagen eigentlich Ihre Kinder zu dem Buch?

Armin Himmelrath.
Armin Himmelrath.
© Jessica Meyer/Promo

Die sind natürlich begeistert. Aber sonst muss ich mich ziemlich oft rechtfertigen, besonders bei Lehrern. Das Thema piekst etwas an, bei dem alle wissen, dass es nicht rund läuft. Da muss man mit Widerstand rechnen.

Das Gespräch führte Sylvia Vogt

Armin Himmelrath, 48, ist Bildungs- und Wissenschaftsjournalist. Sein Buch „Hausaufgaben, Nein danke!“ ist soeben im Hep-Verlag erschienen (152 Seiten, 16 €).

Welche Regeln in Berlin gelten

REGELN HEUTE

Ob sie Hausaufgaben vergeben oder nicht, entscheiden die Schulen weitgehend eigenständig. Über die Grundsätze entscheidet die Schulkonferenz, über Umfang und Verteilung die Klassenkonferenz. In der Verordnung zur Sekundarstufe I heißt es: „Hausaufgaben sollen die im Unterricht eingeleiteten Lernprozesse unterstützen und vertiefen oder können der Unterrichtsvor- und -nachbereitung dienen.“

REGELN FRÜHER

In einer nicht mehr gültigen Ausführungsvorschrift von 1991 gab es genaue Vorgaben. Hausaufgaben durften nicht übers Wochenende oder die Ferien erteilt werden und folgende tägliche Zeiten nicht überschreiten: 1. Klasse 15 Minuten, 2. Kl. 30 Minuten, 3./4. Kl. 45 Minuten, 5./6. Kl. 60 Min., 7./8./9. Kl. 90 Min., 10. Kl. 120 Min. An diesen Richtwerten orientieren sich noch viele Schulen.

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