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Exklusiv

Früheinschulung: Schon in der ersten Klasse überfordert

Die Schulanfänger in der Hauptstadt sind bundesweit die jüngsten. Immer mehr Kinder müssen das Anfangsjahr wiederholen. Nun formiert sich Widerstand unter den Eltern. Denn die Liste der Probleme ist lang.

Nach dem Turboabitur und dem Jahrgangsübergreifenden Lernen (JüL) gerät mit der frühen Schulpflicht eine weitere Reform in das Visier von Eltern und Fachleuten. Insbesondere die Tatsache, dass die Ergebnisse der bundesweit einzigartigen Früheinschulung noch nie wissenschaftlich ausgewertet wurden, empört die Betroffenen. Immer mehr Eltern versuchen jetzt, eine Rückstellung ihrer Kinder zu erreichen.

„Die Eltern haben Sorge, dass ihr Kind zu jung ist“, berichtet die zuständige Schulrätin von Steglitz-Zehlendorf, Karin Reich. In ihrem Bezirk ist die Zahl der Anträge auf Rückstellungen abermals um rund 20 Prozent auf etwa 220 gestiegen. Ähnlich ist die Entwicklung in anderen Bezirken. Dennoch landen in den Schulen noch immer viele Kinder, die überfordert sind. Das Gesetz verbietet aber, dass Kinder, die einmal in der Schule sind, zurück in die Kita geschickt werden. Nicht selten machen die Pädagogen die Bezirksärzte dafür verantwortlich, wenn unreife Kinder in die Schule kommen – zu Unrecht. Denn es sind die Eltern, die Rückstellungen beantragen müssten.

„Die Eltern sind mit dieser Regelung überfordert“, befürchtet CDU-Bildungsexperte Stefan Schlede. Es müsse ein „anderer Mechanismus“ eingebaut werden, um die Einschulung unreifer Kinder zu verhindern, findet er. Wie Özcan Mutlu von den Grünen versteht er nicht, warum die Grundschulreform mitsamt JüL und Früheinschulung nie wissenschaftlich evaluiert wurde. „Es verfolgt Kinder ein Leben lang, wenn sie zu früh eingeschult wurden“, befürchtet Mutlu. Der Einwand der Bildungsverwaltung, dass die überforderten Kinder doch ein Jahr länger in der Schulanfangsphase verbleiben könnten, überzeugt den Grünen nicht. Er hielte es für besser, die Kinder länger in der Kita zu lassen. Das seien doch auch Bildungseinrichtungen. Landeselternsprecher Güner Peiritsch sagte, er kenne „keine Befürworter“ des Berliner Sonderwegs, Kinder mit fünf einzuschulen. Wie Mutlu plädiert er dafür, „das Verfahren umzudrehen“. In der Folge müssten nicht Rückstellungen, sondern Früheinschulungen beantragt werden.

Die Umsetzung der ambitionierten Grundschulreform von 2005 scheitert laut FU-Erziehungswissenschaftler Hans Merkens daran, dass es „im Kern keine Personalentwicklung“ gegeben habe. Die Politik habe darauf vertraut, dass die Lehrer die neuen Herausforderungen durch „Learning by doing“ bewältigen könnten. Dies sei aber „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Fehleinschätzung gewesen“. Inge Hirschmann vom Grundschulverband führt die Probleme darauf zurück, dass die Reform personell nicht ausreichend unterfüttert worden sei. Die Kinder länger in der Kita zu lassen, hält sie aber für den falschen Weg, „weil die Erzieherausbildung zu wünschen übrig lässt“. FU-Wissenschaftler Merkens hält dem entgegen, dass es auch den Lehrern an einer „systematischen Fortbildung mangelt“. In der Folge würden die „Risikogruppen“ nicht ausreichend gefördert.

Wie groß diese Gruppen sind, belegen Einschulungsuntersuchungen. Berlinweit spricht jedes fünfte Kind schlecht Deutsch, in manchen Bezirken jedes dritte – selbst wenn die Familien deutscher Herkunft sind. Hinzu kommt die mangelnde Förderung bei bildungsfernen Eltern. Dies hat etwa in Marzahn-Hellersdorf in diesem Jahr dazu geführt, dass 400 von 2150 Erstklässlern die erste Klasse wiederholen müssen. Berlinweit ist der Anteil der Kinder, die in der Schulanfangsphase ein Jahr länger „verweilen“ müssen, im Vorjahr auf 3800 Kinder gestiegen, was 16 Prozent entspricht.

Susanne Vieth-Entus

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