Ostschüler in West-Berlin: Die Mauer kam dazwischen
38 Schüler aus Ost-Berlin und der DDR machen im Sommer 1961 ihr Abitur am Bertha-von-Suttner-Gymnasium in Reinickendorf. Zwischen schriftlicher und mündlicher Prüfung wird die Grenze abgeriegelt. Lebenswege werden getrennt. Jahre später trifft sich die Klasse wieder - und schreibt gemeinsam ein Buch.
Obwohl Sonntag ist, klingelt der Wecker Karin Habener um vier Uhr aus dem Bett. Die 20-Jährige hat einen weiten Weg vor sich, vom Nöldnerplatz, Lichtenberg, muss sie in die Lindenthaler Allee nach Zehlendorf fahren. Es sind Sommerferien. Karin jobbt im Krankenhaus, vertreibt sich die Zeit zwischen schriftlicher und mündlicher Abiturprüfung. Wie jeden Morgen schaltet sie das Radio an, leise nur, denn es läuft der Rias, für die DDR-Führung der Sender des Klassenfeinds. Was der Lautsprecher flüstert, lässt sie erstarren: Seit ein Uhr nachts, hört sie fassungslos, sind die Grenzen dicht.
Es ist der 13. August 1961. „Ich muss weg, so schnell es geht“, denkt Karin.
Jürgen Schleicher ist an diesem Morgen noch immer sauer. Seine Verabredung am Abend zuvor war geplatzt. Er hatte nach Prenzlauer Berg fahren wollen, um mit seiner Mitschülerin Regina – dem schönsten Mädchen der Schule – zu lernen. Stattdessen waren seine Eltern nach Berlin gekommen, ganz kurzfristig aus Frankfurt/Oder. „Wir wollen uns verabschieden“, sagte sein Vater. „Morgen wird Westberlin dichtgemacht.“ In seinem Zimmer in Schmargendorf knipst der 18-Jährige das Radio an. Er hört: Seine Eltern hatten recht.
„Was bin ich für ein Glückspilz, dass ich im Westen bin“, denkt Jürgen.
Für Klaus Richter beginnt der Tag wie jeder andere Feriensonntag auch. Der 19-Jährige genießt den Sommer, zu Hause in Pankow. Im Regal liegen noch die Bücher für die Abiturprüfung in Deutsch: Gottfried Keller, ausgeliehen aus der Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg. Brutal zerstört die Nachricht die Idylle: Die Staatsmacht hat begonnen, eine Mauer zu bauen.
„Jetzt nur nichts Unüberlegtes tun“, denkt Klaus.
Wenige Wochen zuvor haben Karin Habener, Jürgen Schleicher und Klaus Richter am Bertha-von-Suttner-Gymnasium in Reinickendorf ihre schriftlichen Abiturprüfungen abgelegt. Sie sind drei von 38 Schülern aus Ost-Berlin und der DDR, welche in jenem Jahr an dieser Schule ihren Abschluss machen: in einer der sogenannten Ostklassen in West-Berlin. Nach einer Party verabschiedet sich die Klasse in die Ferien. Für den Herbst, wenn das mündliche Abitur geschafft ist, haben sie große Pläne. Einige haben schon die Zusage für einen Studienplatz, fast alle wollen in den Westen ziehen. Sie ahnen nicht, dass Jahre vergehen werden, bis sie sich wiedersehen.
Die Mauer kommt ihnen dazwischen.
„Ich war so wütend auf mich, dass ich vor dem 13. August nicht mitgekriegt habe, was da passiert“, sagt Karin Albert, wie sie seit ihrer Hochzeit 1964 heißt. Schließlich hatten sie und ihre Freunde sich für schlau gehalten, für gut informiert, und vor allem: den Grenzposten überlegen. Die Grenze war für sie ja alltäglich. Seit 1958 ist Karin jeden Tag von Lichtenberg nach Reinickendorf gefahren, um nicht im Ostteil der Stadt zur Schule gehen zu müssen.
Anders als die meisten ihrer Mitschüler hatte Karin Albert zunächst einen Oberschulplatz in Ost-Berlin. „Ich lebte in zwei Welten“, erinnert sich die heute 70-Jährige. Die Welt zu Hause, bei Freunden und im Kirchenkreis war bürgerlich und weltoffen. In der Schule gab es montags Fahnenappell, gesellschaftspolitische Beurteilungen im Zeugnis und Spitzel unter den Lehrern. Sie versuchte, sich zu arrangieren. Sie gestaltete die Wandzeitung, das gab Pluspunkte, eine Volkstanzgruppe lieferte die Ausrede für den 1. Mai: Statt zum Aufmarsch der Arbeiterjugend zog Karin los zum Auftritt der Volkstänzer. „Man hat sich gedrückt, so lange es ging“, sagt sie.
Irgendwann ging es nicht mehr. Schriftlich meldete sie sich ab. Eine Antwort bekam sie nie – aber auch keine Schwierigkeiten. Im West-Berliner Hauptschulamt sprach sie vor, Minuten später hatte sie ihren Platz am Bertha-von-Suttner-Gymnasium. Dort tritt sie ein in eine wieder neue Welt. Die Ostschüler, bunt zusammengewürfelt aus allen Teilen Ost-Berlins und der DDR, lernen Englisch, lesen Westlektüre, spielen Theater. Plötzlich sollen sie ihre Meinung sagen, diskutieren, kritische Aufsätze schreiben. Die Umstellung ist schwer. Aber alle sind froh, den Zwängen entkommen zu sein.
„Ich habe in der DDR überhaupt keine Zukunft gesehen“, sagt der heute 68-jährige Jürgen Schleicher. In Frankfurt/Oder flog er von der Schule – weil er sich gemeinsam mit einem Freund für einen unliebsamen Lehrer stark gemacht hatte. Die Eltern schicken beide Jungen nach West-Berlin. In einem kirchlichen Wohnheim am Roseneck kommen sie unter, die Kosten, zirka 200 DM pro Monat, übernimmt der West-Berliner Senat. Zusätzlich zu Unterkunft und Verpflegung gibt es Taschengeld in Westmark und eine Schülermonatskarte. „Eigentlich sollte ich mit dem Schulverweis bestraft werden“, sagt Jürgen Schleicher. „Und was habe ich bekommen: Ku’damm statt Frankfurt/Oder!“ Er lacht.
Er erlebt aber auch kritische Situationen, lernt die Panik kennen, den falschen Ausweis zu zeigen: Sein Pass weist ihn als DDR-Bürger aus, doch auf der Monatskarte steht die Adresse in Grunewald. Bloß nicht versehentlich einem Vopo das Westdokument zeigen! Und immer eine Ausrede parat haben, warum er in Berlin ist! „Diese Angst kehrt in den Träumen später immer wieder“, sagt er.
„Aber Schikanen waren nicht der Alltag“, sagt Karin Albert. Vor allem diejenigen Ostschüler, die als Grenzgänger täglich pendeln, machen sich einen Spaß daraus, die Vopos an der Nase herumzuführen. „Manchmal haben wir uns in der S-Bahn extra provokant verhalten“, sagt Karin Albert und lacht. „Es ist immer gut gegangen.“ Und fast alle seien sie sicher gewesen: Wenn es wirklich ernst wird, merken wir das schon rechtzeitig. Doch die Warnzeichen vor dem 13. August 1961 erkennen sie nicht.
Für Karin und ihren Freund Karl-Heinz Albert steht sofort fest: Wir gehen. Alles dreht sich um die Suche nach einer Fluchtmöglichkeit. Sie streifen an der Grenze herum, halten Ausschau nach einem Schlupfloch. Eines Tages steht Karins Schulfreund Dieter Wohlfahrt vor der Tür, fragt: „Wollt ihr rüber?“ – „Ja“, sagt Karin. Zu sechst, mit Karins Familie, fliehen sie in der Nacht zum 3. Oktober durch einen Abwasserkanal zwischen Mitte und Kreuzberg.
Dieter Wohlfahrt hat 1960 sein Abitur am Bertha-von-Suttner-Gymnasium gemacht, 1961 studiert er bereits an der TU. Er hat einen österreichischen Pass – und darf die Grenze passieren. Fast täglich fährt er mit dem Motorrad nach Ost-Berlin, besucht Bekannte, bietet Hilfe an. Dutzenden verhilft der 19-Jährige mit Kommilitonen zur Flucht; im Westen angekommen, helfen auch Karin und Karl-Heinz Albert der Gruppe. Vor den Augen von Karl-Heinz Albert wird Dieter Wohlfahrt am 9. Dezember in Staaken von Grenzpolizisten erschossen.
„Ich hatte mir große Sorgen um Dieter gemacht“, sagt Ruth Wellmer. „Er war so mutig, gefährlich mutig.“ Die heute 86-Jährige war am Bertha-von-Suttner-Gymnasium jahrzehntelang Lehrerin für Deutsch und Geschichte. Für viele ihrer Ostschüler war sie noch viel mehr.
In den Tagen nach dem 13. August 1961 klingelt Dieter Wohlfahrt auch an ihrer Tür am Roseneck. Sie besprechen die Situation. Was man machen könne. Dass man helfen müsse. Genau weiß sie es heute nicht mehr, aber wahrscheinlich ist er es, der den Gedanken in ihr weckt: Ich muss etwas tun. Sie zögert nicht.
Schnell sind ausländische Studenten gefunden, die bereit sind, ihre Pässe zu verleihen. Die Lehrerin fährt damit nach Ost-Berlin, bringt Schüler aus mehreren Ostklassen in der S-Bahn über die Grenze. Später, als West-Berliner die Grenze nicht mehr passieren dürfen, wartet sie im Auto an den Kanaldeckeln auf der Westseite und „sammelt auf, was rauskommt“. Schüler, die nicht wissen, wohin, nimmt sie erst einmal bei sich auf. „Wir sind manchmal mit 20 Leuten bei ihr reingeplatzt“, erzählt Karin Albert. „Dann drückte sie einem von uns 20 Mark in die Hand und schickte ihn zum Metzger, dass er für alle Essen besorgt.“
„Es war eben das, was man damals tun musste“, sagt Ruth Wellmer, ruhig und bestimmt. Eines will sie nicht: dass man sie idealisiert, heroisiert. Ob sie Angst hatte damals? Sie lächelt die Frage weg. „Natürlich hatte ich Angst. Aber man war ja an die Angst gewöhnt.“
Die Angst ist es auch, die die Klasse auseinanderstieben lässt. Von 38 Abiturienten fliehen zwölf, drei bleiben im Osten, die übrigen waren am 13. August schon im Westen. Nahezu alle Kontakte reißen ab, Freundschaften zerbrechen. Über die eigene Flucht wird geschwiegen – auch aus Angst vor dem langen Arm des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit. „Jeder hatte mit seiner eigenen Biografie zu tun“, sagt Ruth Wellmer. Sie selbst gibt lange nichts preis über ihre Rolle bei der Flucht ihrer Schüler. Das West-Abitur bestehen die Ostschüler übrigens alle: Wer nicht zur mündlichen Prüfung erscheinen kann, bekommt das Zeugnis später per Post.
Sie richten sich ein in ihren neuen Leben. Karin studiert Religionspädagogik, zieht mit Karl-Heinz erst nach Friedenau, später nach Ruhleben, bekommt zwei Kinder. Jürgen Schleicher studiert Volkswirtschaftslehre, eröffnet einen Buchladen in Dahlem-Dorf, wo er mit seiner Familie auch wohnt.
Klaus Richter arrangiert sich mit dem real existierenden Sozialismus.
In den Tagen nach dem 13. August 1961 wird auch er gefragt, ob er fliehen will. Er schlägt das Angebot aus. „Ich hatte nicht den Mut dazu“, sagt er. „Dann hätte ich vielleicht meine Familie nie wieder gesehen.“ Er ist das einzige Kind, die Großeltern, die Freundin – sie alle leben im Osten. Er kann und will seine Heimat nicht aufgeben. Die Eltern sagen: Entscheide selbst, ob du gehen willst.
Er bleibt. Macht eine Lehre und an der Abendschule Ost-Abitur, darf studieren und bekommt eine Stelle als Ingenieur. 1964 lernt er Eleonore kennen, sie heiraten 1968, bald kommen die beiden Kinder. In Rosenthal, nicht weit weg von der Mauer, finden sie ihr Paradies: einen riesigen Garten mit „Nachkriegsbehelfsheim“, wie die Laube im DDR-Jargon heißt; dort bauen sie später ihr Haus. Die Freiheit, die ihnen der Staat nicht zugesteht, nehmen sie sich im Privaten.
Irgendwann 1981 fahren bei Richters mehrere Westautos vor, alte Schulfreunde steigen aus. 20 Jahre hatten sie sich nicht gesehen, dann hat Jürgen Schleicher die Abiturienten zum Klassentreffen zusammengebracht. Weil es nur so möglich ist, auch Klaus Richter zu sehen, fahren sie grüppchenweise zu ihm rüber. Er organisiert Ausflüge, in den Spreewald, nach Chorin, nach Niederfinow. Die Klasse rückt wieder zusammen, trifft sich fortan alle fünf Jahre.
Im September 2009 sitzen sieben der Abiturienten von 1961 im Garten einer Mitschülerin in Birkenwerder. Ein Ereignis steht bevor, es bedeutet ihnen grenzenlose Genugtuung: der 20. Jahrestag des Mauerfalls. Sie haben eine Idee: Lasst uns unsere Geschichten aufschreiben – und zum 50. Jahrestag des Mauerbaus veröffentlichen. Ein Buch für uns, unsere Kinder, unsere Schule. Sie kontaktieren die Mitschüler, 16 sind bereit, ihre Erinnerungen zu Papier zu bringen.
Monatelang feilen sie an ihren Beiträgen, kramen in Gedanken und alten Fotos, lesen penibel die Artikel der anderen. Das Projekt bringt sie eng zusammen. „Obwohl ich viele von ihnen bei Klassentreffen gesehen habe, hatte ich vorher keine Ahnung, was sie erlebt haben“, sagt Klaus Richter.
Was so lange ungesagt blieb, ist nun endlich mitgeteilt. Aufgeschrieben, 50 Jahre nach dem 13. August 1961.
Klaus Richter ist am 1. August nach kurzer, schwerer Krankheit verstorben. Das Interview mit ihm fand noch vor seiner Erkrankung statt. Seine Frau Eleonore hat der Veröffentlichung dieses Artikels ausdrücklich zugestimmt.
Das Buch: »Immer auf der Hut. Ost-Schüler in West-Berlin. Als die Mauer dazwischenkam.« Nachwort von Veronika Wabnitz: Mit dem Ranzen über die Sektorengrenze. Verlag Scheichers Buchhandlung, Berlin 2011. 212 Seiten mit Abb. 13 Euro. ISBN 978-3-9809089-4-8.