Berliner Schulleiter warnen: Die Lernmittelfreiheit wird für Schulen teuer
Ein Büchergeschenk mit unerwünschten Folgen: Die Zuschüsse des Landes bleiben hinter den Zahlungen der Eltern zurück. Was sind die Folgen?
Eltern von Erst- bis Sechstklässlern sparen ab sofort das Geld für Schulbücher: Ab diesem Sommer gilt in diesen Klassenstufen die Lernmittelfreiheit für alle freien und öffentlichen Schulen. Stattdessen bekommen die Schulen acht Millionen Euro zusätzlich vom Land.
Was für die Betroffenen zunächst erfreulich klingt, bereitet vielen Schulen jedoch Kopfzerbrechen: Sie befürchten, künftig weniger Geld zur Verfügung zu haben als bisher, da die acht Millionen Euro hinter dem zurückbleiben, was vorher durch die Elternzahlungen in den Schulen ankam.
Geplant ist Folgendes: Das Land überweist wie bisher 98 Euro pro Jahr für die Lehr- und Lernmittel von Kindern aus Sozialtransferfamilien. Dabei bleibt es. Die Änderung betrifft jene über 100.000 Kinder (62 Prozent), deren Eltern bislang „Selbstzahler“ waren. Für diese Kinder bekam die Schule bisher 73 Euro, künftig werden es ebenfalls 98 Euro sein, also 25 Euro mehr.
Viele Schulen bildeten einen Bücherfonds
Damit haben viele Schulen aber weniger Geld als bisher. Denn bisher war es entweder so, dass die Selbstzahler bis zu 100 Euro für eigene Bücher ausgaben, sodass die Schule die 73 Euro für anderes übrig hatte. Oder aber die Eltern zahlten pro Jahr rund 50 Euro in den Bücherfonds ihrer Schule ein. Mit diesem Geld plus den 73 Euro konnte die Schule ebenfalls neben Schulbüchern weitere Lehr- und Lernmittel kaufen oder Geld für größere Anschaffungen ansparen. Manche Schulen nutzten das Geld etwa, um sich mit speziellen Sportgeräten oder mit Materialien für Methoden wie Montessori auszurüsten: Das Geld aus dem Bücherfonds stand dann allen Kindern zur Verfügung – auch denen, die nichts einzahlten.
Das Land zahlt eine Anschubfinanzierung
„Die geplante Umsetzung der Lernmittelbefreiung bedeutet eine massive Kürzung der Mittel“, mahnt nun Janett Hartig, Leiterin der Grundschule am Kollwitzplatz. Hartig hat sich im Namen des Vereins „Schule akut Berlin“ an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) gewandt und gefordert, dass nicht weniger Geld bei den Schulen ankommen dürfe als bisher – zumal angesichts der „großen Herausforderung der Umsetzung der Inklusion“. Auch dafür brauche man „neue, veränderte Lehr-und Lernmittel“, heißt es in dem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt.
Hinzu komme der hohe Anteil an Verbrauchsmaterialien wie Arbeitsheften, die nur einmal benutzbar sind. Die Rechnung des Senats, dass die Schulbücher vier Jahre lang halten und die Schulen daher mit 25 Euro das Äquivalent für die 100 Euro der Eltern habe, überzeugt Hartig allein schon wegen der vielen Arbeitshefte nicht. Die Kritiker lassen sich auch nicht dadurch beruhigen, dass das Land 2018 und 2019 jeweils 50 Euro pro Kind zusätzlich überweisen wird, damit die Schulen einen Büchergrundstock anlegen können: Spätestens ab 2020 werde sich das „Defizit verschärfen“, warnt „Schule akut Berlin“.
Auch die grundständigen Gymnasien sind betroffen
„Die Schulen werden schlechtergestellt“, steht auch für die Vereinigung der Oberstudiendirektoren fest: Ihr Vorsitzender Ralf Treptow, Leiter des Rosa-Luxemburg-Gymnasiums, wies schon im April im Namen der Vereinigung darauf hin, dass die Neuregelung auch Folgen für die mit Klasse 5 beginnenden grundständigen Schulen haben würde.
Zudem melden sich einzelne Schulleiter zu Wort, darunter Dorothea Ferrari, Leiterin der Reinickendorfer Otfried-Preußler-Grundschule. Auch sie beklagt, dass sie künftig weniger Geld zur Verfügung haben werde. Zudem bekomme sie das Geld nur entsprechend ihrer Schülerzahl von 2017, obwohl sie ab Sommer 2018 rund 40 Schüler mehr haben werde.
Was die schülergenaue Zahlung angehe, so werde noch nachgesteuert, heißt es beschwichtigend aus der Bildungsverwaltung. Und Senatorin Scheeres ergänzt, „dass die Schulen die Ausstattung für den Aufbau des Bücherbestands erhalten, die sie benötigen“.
Der Pausenraum wird zur Bücherei
Einige Schulleiter teilen Scheeres’ Einschätzung: „Wir können mit dem Geld alle Bücher kaufen“, verkündet etwa Ulrich Ziem, Leiter der Hauptmann-von-Köpenick-Schule. Er hatte bisher nur einen kleinen Schulbuchbestand, weil 90 Prozent seiner Eltern Selbstzahler sind. Jetzt muss er auf die Schnelle einen Pausenraum zum Bücherraum umfunktionieren. Aber das sei „keine Katastrophe“.
Bezirke überweisen nicht das volle Budget
Dass viele Schulleiter hingegen Alarm schlagen, hängt auch damit zusammen, dass ihre Bezirke bis zu 25 Prozent der Lehr- und Lernmittelbeträge nicht verteilen, sondern für größere Anschaffungen, wie etwa im Unterricht genutzte Server, zurückhalten – mit dem Einverständnis der Finanzverwaltung, wie Pankows Bildungsstadtrat Torsten Kühne (CDU) betont. Somit gehen die eigentlich zugedachten 98 Euro pro Schüler gar nicht bei allen Schulen ein. Die Bildungsverwaltung will dieses Problem am Freitag auf der Bezirkstadträtesitzung ansprechen.
Bei den Eltern komme „eine große Verunsicherung an“, berichtet Landeselternsprecher Norman Heise. Es sei „erkennbar, dass durch die Lernmittelfreiheit nicht genügend Mittel für die Erstausstattung mit Schulbüchern vorhanden sein werden“. Der Landeselternausschuss fordert deshalb, dass das Budget an den Bedarf angepasst werde: „Die Schulen dürfen nicht schlechter gestellt werden als vor der Lernmittelfreiheit“.
Die Grünen waren von Anfang an skeptisch
Das aber ist kaum erreichbar mit der Neuregelung. Je mehr Selbstzahler eine Schule hatte, desto mehr verliert sie jetzt. Dazu heißt es aus der Verwaltung empört, manche sozial bessergestellte Schule habe „Rücklagen“ gebildet. Die Bücherfonds müssen Ende 2018 aufgelöst sein.
„Es macht wenig Sinn, dass wir die Elterngelder aus dem System rausziehen“, hieß es von Anfang an beim grünen Koalitionspartner. Aber die SPD habe nun einmal auf der Lernmittelfreiheit bestanden.
Die Sozialdemokraten selbst hatten diese Vergünstigung für die Eltern 2003 im Rahmen ihrer Sparpolitik abgeschafft. Im Jahr 2009 gab es schon einmal Diskussionen über die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit - und schon damals wurde vor den Folgen gewarnt.
Stichwort: Lern- und Lehrmittel
In den Schulen unterscheidet man Lernmittel und Lehrmittel. Lernmittel sind Schulbücher und Arbeitshefte, die für die Hand des Schülers gedacht sind. Lehrmittel benutzt der Lehrende – etwa Schautafeln. Die Lernmittelfreiheit gilt ab diesem Sommer für die Klassenstufen 1 bis 6. Familien, die von Sozialtransfers wie Hartz IV leben, mussten schon bisher keine Schulbücher kaufen – das betrifft 67 000 Erst- bis Sechstklässler (38 Prozent). Künftig gilt das auch für die übrigen 106 000 Schüler dieser Jahrgänge.
Susanne Vieth-Entus