Schulabschluss Berufsbildungsreife: Berlin: Neuntklässler im Prüfungsstress
Die Berufsbildungsreife ersetzt den Hauptschulabschluss. Getestet werden Grundlagen in Mathe und Deutsch. In der kommenden Woche stehen die Prüfungen an.
Rund 14 000 Neuntklässler werden in diesem Jahr einen Schulabschluss erwerben, den es bisher noch nicht gab: Die Berufsbildungsreife ersetzt den früheren Hauptschulabschluss. Doch anders als bisher, als der Abschluss allein durch die Versetzung in die 10. Klasse erworben wurde, müssen nun alle Sekundarschüler zentrale Vergleichsarbeiten in Mathematik und Deutsch bestehen. Kommende Woche ist Premiere: Am 16. April steht Deutsch auf dem Plan, am 18. April folgt Mathematik.
Die Stimmung an den Schulen ist gemischt: Während die Schulen mit leistungsstärkerer Klientel wenig Probleme erwarten, gibt es an ehemaligen Hauptschulen und an Schulen im sozialen Brennpunkten einige Bedenken. Insbesondere die Mathematikarbeit flößt den Schüler Respekt ein, da auch Volumenberechnung auf dem Programm steht.
„Die Schüler chatten die ganze Nacht und schlafen dann übermüdet im Unterricht ein“, beschreibt ein Mathematiklehrer die Situation, die sich durch die allgegenwärtigen Smartphones noch verschlimmert habe. Er fürchtet deshalb, dass es etliche Sechsen geben könnte, die sich mit keiner noch so guten Note in der Deutscharbeit ausgleichen lassen.
Andere Lehrer haben diese Bedenken nicht, weil sie bereits Erfahrungen mit vergleichbaren Arbeiten haben: Zehntklässler mit einer Lernbehinderung schreiben nämlich bereits seit 2007 ähnliche Arbeiten in Deutsch und Mathematik. „Die Anforderungen sind für die beiden Arbeiten identisch mit denen für die vergleichenden Arbeiten, die nun für die Berufsbildungsreife der Neuntklässler gelten“, erläutert die Sprecherin der Bildungsverwaltung, Beate Stoffers.
Dass die Klausuren „machbar“, wenn nicht sogar „einfach“ sind, erwartet auch die Leiterin der Weißenseer Heinz- Brandt-Schule, Miriam Pech. Ihre Schule hat bereits an einem Probelauf für die neuen Arbeiten teilgenommen. Eine Gefahr sieht sie nur darin, dass die Schüler die Aufgaben nicht genau lesen und sie deshalb falsch beantworten. Außerdem hat sie die Erfahrung gemacht, dass Eltern sich Sorgen machen, was passiert, wenn ihre Kinder auch in Klasse 10 die Berufsbildungsreife nicht schaffen. Solange man sie bei der Versetzung in die zehnte Klasse automatisch bekam, waren diese Sorgen geringer.
Jens Großpietsch von der Moabiter Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule Schule findet zentrale Prüfungen „immer ein bisschen problematisch“. Sie führten oftmals zum sogenannten Learning for Testing. Gerade für die Schüler, für die der Schulabschluss gedacht sei, wären möglicherweise andere Bewertungsmaßstäbe sinnvoller. „Viele arbeiten in der neunten Klasse engagiert in Schülerfirmen. Doch das fließt leider nicht in die Bewertung ein“, bedauert er.
„Wir gehen davon aus, dass der Unterschied zum Hauptschulabschluss nicht sehr groß ist“, sagt Nadia Chabbi von der Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK). Der neue Name sei allerdings geschickt. „Auf einmal sind die Jugendlichen berufsbildungsreif, weil es keine Hauptschulen mehr gibt“, sagte Chabbi und klingt ein bisschen skeptisch. Allerdings begrüßt die IHK-Sprecherin, dass durch die Vergleichsarbeiten „ ein gewisser Standard festgelegt wird“. Die Unternehmen würden dringend Auszubildende suchen. Bei der jüngsten IHK- Lehrstellenbörse seien über 1200 Ausbildungsplätze unbesetzt geblieben, davon rund 400 für Bewerber mit Berufsbildungsreife.
Immer wieder beklagen Unternehmen, dass sie keine Auszubildenen finden, weil die primitivsten Grundkenntnisse fehlten. Als Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) im vergangenen Jahr die IHK besuchte, berichtete der Chef eines großen Fensterbaubetriebes, dass viele Bewerber nicht einmal in der Lage seien, Flächen zu berechnen. Das sei für angehende Fensterbauer völlig indiskutabel. Letztlich blieben in seinem Betrieb alle Ausbildungsplätze frei.
Die neuen Vergleichsarbeiten für die Berufsbildungsreife berücksichtigen diese Probleme. Neben Volumenberechnung, Prozentrechnen und Dreisatz gehört auch Flächenberechnung zu den Aufgaben, die die Neuntklässler 100 Minuten lang abarbeiten müssen. In der Deutscharbeit geht es vor allem um Testverständnis. „Kenntnisse im Schreiben und Rechnen und soziale Kompetenzen sind wichtig – so banale Dinge wie etwa, dass man grüßt“, betont Chabbi. Und sie erinnert daran, dass die IHK bei der Schulstrukturreform, also der Abschaffung der Hauptschulen, die Einführung der Praxisklassen ausdrücklich begrüßt habe. Inzwischen habe nahezu jede Sekundarschule ein Kooperationsprojekt mit einem oder mehreren Unternehmen.
Susanne Vieth-Entus, Sylvia Vogt