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© Davids/Darmer

Bildungsreform: Lernen wird in Berlin neu buchstabiert

Berlin startet zur größten Bildungsreform seit der Vereinigung: Haupt-, Real- und Gesamtschulen sind Auslaufmodelle. Ab dem Sommer verschmelzen sie zu neuen Sekundarschulen. Sie bieten künftig alle Abschlüsse bis zum Abitur – wie die Gymnasien.

Wie kam es zu der Schulreform?

Über die Hauptschule wurde schon in den 1970er Jahren gestritten – damals fiel im Berliner Parlament das Wort „Restschule“. Immer wieder wurden Rufe nach Reformen des Schulsystems laut. Die jetzige Reform ist nach einzelnen Neuerungen wie etwa dem Zentralabitur oder dem jahrgangsübergreifenden Lernen in der Grundschule die erste, die auf die Struktur des Berliner Schulsystems zielt. Die Koalition aus SPD und Linkspartei hatte zunächst Pläne für eine „Schule für alle“, in der auch die Gymnasien aufgehen sollten. Im März 2007 brachte jedoch der grüne Bildungsexperte Özcan Mutlu einen Antrag ins Parlament ein, „die Zweigliedrigkeit als Schritt für mehr individuelle Förderung zu prüfen“. Leidenschaftlich wurde zwar noch die Abschaffung der Gymnasien diskutiert. Nachdem sich der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) jedoch gegen einen „Kulturkampf“ ausgesprochen hatte, in dem das von der Opposition als „Einheitsschule“ gescholtene Projekt der Linken dem stark gegliederten Schulsystem der CDU gegenüber stand, wurde schließlich der zweigliedrige Weg favorisiert.

Wo lagen die strittigen Punkte?

Der größte Streitpunkt war die Zugangsberechtigung zum Gymnasium. Da für Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) insbesondere der Wille der Eltern eine Rolle spielte und er diesen Standpunkt durchsetzen konnte, ist die Empfehlung der Grundschule nun nicht bindend. Bei übernachgefragten Schulen entscheidet ab 2011 der Schulleiter über 60 Prozent der zur Verfügung stehenden Plätze. Zehn Prozent gehen an Härtefälle wie Geschwister, der Rest wird verlost, um die soziale Durchmischung zu fördern. Die CDU kritisierte dies als „Frontalangriff auf die Gymnasien“, die FDP sprach von „Schüler-Lotto“. Mit dieser Diskussion einher ging auch die Debatte um das nun eingeführte Probejahr an den Gymnasien. Bildungsexperten sprachen sich bis zuletzt dagegen aus. Grüne und Linkspartei kritisierten, die Sekundarschulen, die zu schwache Schüler nach einem Jahr aufnehmen müssen, würden damit zum Auffangbecken der Gymnasien.

Was ändert sich mit der Reform?

50 Haupt-, 58 Real- und 49 Gesamtschulen werden in Sekundarschulen umgewandelt – zum Teil allein, zum Teil fusionieren sie. Insgesamt gehen 121 Sekundarschulen an den Start, darunter auch 15 Gemeinschaftsschulen. Hier können alle Abschlüsse von der Berufsbildungsreife (dem ehemaligen Hauptschulabschluss) über den Mittleren Schulabschluss (dem ehemaligen Realschulabschluss) bis hin zum Abitur erlangt werden. Das Abitur wird in den Sekundarschulen in der Regel nach 13, in den Gymnasien nach zwölf Jahren abgelegt. An der Sekundarschule können Schüler im Unterschied zum Gymnasium nur noch mit einer Bildungs- und Erziehungsvereinbarung der Eltern sitzen bleiben. Das Wohnortprinzip wird abgeschafft.

An den Sekundarschulen und an je einem Gymnasium pro Bezirk wird kostenloser Ganztagsunterricht eingeführt. Dafür muss es Angebote bis 16 Uhr geben. Jede Schule kann jedoch selbst entscheiden, ob sie ihre Schüler schon um 14 Uhr nach Hause entlässt. Bis 2015 sollen 400 neue Lehrer und Erzieher eingestellt werden, für die 23 Millionen Euro vorgesehen sind. Im Vergleich zu den Hauptschulen werden die Klassen kleiner, im Vergleich zu den Realschulen größer: Die neue Klassenstärke liegt bei 25 Schülern.

Was sind die Ziele?

Die Sekundarschulen sollen eine gemischte Schülerschaft anziehen. Die Stigmatisierung schwächerer Schüler soll damit verhindert werden, durch längeres gemeinsames Lernen soll außerdem die Chancengleichheit unabhängig von der sozialen Herkunft erhöht werden. So soll mehr Schülern zu den bestmöglichen Abschlüssen verholfen werden. An diesem Ziel wird sich die Reform messen lassen müssen. Außerdem soll das duale Lernen gestärkt werden. An bis zu drei Tagen kann nun außerhalb der Schule an sogenannten Praxislernorten gelernt werden. Berlins Industrie- und Handelskammer verspricht sich davon eine spürbare Verbesserung der Berufsorientierung.

Wo liegen die Herausforderungen in der Umsetzung?

Die Sekundarschulen müssen künftig auch stärkere Schüler für sich gewinnen. Das Abitur der Sekundarschulen ist gleichwertig mit dem der Gymnasien – und die Schulen selbst sollen es auch sein. Nach Möglichkeit soll vermieden werden, dass sich an einigen Sekundarschulen Schüler aus sozial schwachen Familien ballen. Sekundarschulen, die nicht genügend Schüler für eine eigene gymnasiale Oberstufe haben, müssen mit Oberstufenzentren oder den Oberstufen der bisherigen Gesamtschulen kooperieren. Eine gelungene Zusammenarbeit ist entscheidend auch für die Akzeptanz bei Eltern.

In den Sekundarschulen soll integrativ gearbeitet werden. Nicht mehr alle Schüler sollen den gleichen Stoff auf die gleiche Art und Weise lernen: Ziel ist es, weg vom Frontalunterricht hin zu differenzierten Lernformen mit individuellen Wochenplänen, Projektarbeit oder Förderkursen zu kommen. Deshalb wird in den nächsten Jahren in die Lehrerfortbildung investiert: Knapp acht Millionen Euro stehen dafür bereit.

Welche Schulsysteme haben andere Bundesländer?

Viele Bundesländer haben mittlerweile zweigliedrige Schulsysteme. Die Hauptschule existiert noch in einigen Ländern, ist aber nirgends mehr unumstritten. Vorerst bestehen bleibt sie in Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern. Davon richten etwa Baden-Württemberg und Bayern zusätzlich kombinierte Bildungsgänge ein. In Brandenburg gibt es neben dem Gymnasium Oberschulen. Rheinland-Pfalz stellt momentan auf ein zweigliedriges System um. In Schleswig-Holstein steht eine Reform des Schulgesetzes an. Haupt- und Realschulen werden seit 2007 zu Regionalschulen zusammengeführt. Ein Volksbegehren, das die eigenständigen Realschulen erhalten will, ist noch nicht ausgezählt. In Hamburg sollen dieses Jahr ähnlich dem Berliner Modell parallel zu den Gymnasien Stadtteilschulen eingeführt werden. Diese entstehen aus Haupt-, Real- und Gesamtschulen, alle Abschlüsse sind möglich. Einige Bereiche der Reform sind aufgrund eines Volksbegehrens noch unklar. Die Initiatoren wollen die sechsjährige Primarschule verhindern, die Grundschule soll wie bisher vier Jahre dauern. Außerdem soll das Elternwahlrecht erhalten bleiben: Die Empfehlung der Grundschule soll nicht bindend sein.

Was sind die nächsten Schritte?

Für viele Schulen ist noch unklar, wie Ganztagsunterricht, duales Lernen und individuelle Förderung ausgestaltet werden. Deshalb stellen die Schulen momentan mit Hilfe von Prozessbegleitern auf das neue System um. Nötige Umbauten etwa für den Ganztagsunterricht sind mit Mitteln des Konjunkturpakets bereits auf den Weg gebracht. Die Koalition rechnet jedoch damit, dass die bauliche Herrichtung der Schulen bis 2015 dauern wird.

In den kommenden Wochen wird die Senatsbildungsverwaltung mit Broschüren über die Reform informieren. In vielen Bezirken und an Schulen sind Tage der offenen Tür geplant. Rund zwei Drittel der künftigen Berliner Sekundarschulen werden schon im August an den Start gehen, Siebtklässler aufnehmen und dann allmählich in höhere Jahrgangsstufen wachsen. Nur in Spandau, Reinickendorf und Steglitz-Zehlendorf gibt es einige Ausnahmen. Schulen mit besonderen Profilen wie die weiter bestehenden Europa- und Gemeinschaftsschulen haben ihren Anmeldezeitraum vom 8. bis 17. Februar. Der reguläre Zeitraum für Anmeldungen ab Klasse sieben liegt nun zwischen dem 1. und 12. März.

Patricia Hecht

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