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Schüler betrachten im Lichtenberger Stasi-Museum ein Modell des Ministeriums für Staatssicherheit. Auf einem rund 20 Hektar großen Areal in der Normannenstraße erstreckte sich die zugehörigen Gebäude.
© BStu/Dresen

Schüler im Stasi-Archiv: Ausflug in den Überwachungsstaat

Heute vor 23 Jahren erstürmten die Berliner das Stasi-Archiv in Lichtenberg. Zum Jahrestag sind erstmals nur Schüler eingeladen. Mit Filmen, Ausstellungen und Führungen beschäftigen sich 300 Jugendliche mit der Frage, was die DDR noch mit ihnen zu tun hat.

Eigentlich wollten sie sich den 30-jährigen Krieg vornehmen. Aber dann überlegten es sich die drei Freundinnen Marie-Theres, Christina-Marie und Anne, alle 17 Jahre alt und in der elften Klasse des privaten Philipp-Melanchthon-Gymnasiums in Grünheide doch noch anders mit dem Thema für ihre Facharbeit. Jetzt forschen sie im Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin über den DDR-Oppositionellen Wolfgang Templin. „Zuerst war er sogar für das System“, erklärt Christina-Marie. „Seine Einstellung ist dann mit der Zeit anders geworden.“ Andere Zeitzeugen haben die drei sogar persönlich kennengelernt, im Zusammenhang mit der Ausstellung „Jugendopposition“ der Robert-Havemann-Gesellschaft. Die Schau wurde in ihrer Schule gezeigt, die Schüler beschäftigten sich intensiv mit dem Thema. „Ich finde es erstaunlich, dass einige den Mut hatten, sich gegen das Regime zu stellen“, sagt Christina-Marie.

Am heutigen Dienstag wird sie mit ihren beiden Freundinnen vor rund 300 Schülern aus ganz Berlin und Brandenburg auf einem Podium im Stasi-Archiv in Lichtenberg sitzen und über das Thema Opposition diskutieren – mit Roland Jahn, dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik.

Der 15. Januar 1990 war der Tag, „an dem die Berliner hier ins Herz und Hirn der Stasi eingedrungen sind“, sagt Dagmar Hovestädt, Pressesprecherin des Bundesbeauftragten. Für den diesjährigen Jahrestag haben sich die Mitarbeiter der Behörde etwas Neues einfallen lassen: Am Gedenktag ist nicht wie in den Jahren zuvor die gesamte Öffentlichkeit eingeladen, sondern 17 Schulklassen der Stufen zehn bis zwölf. Geschichtsunterricht am Ort des Geschehens wird geboten, mit einem Programm aus Filmen, Diskussionen, Ausstellungen und Führungen. Letzteres übernehmen die Auszubildenden der Behörde. Zeitzeugen sind auch dabei. Außer Christina-Marie und ihren Freundinnen haben sich 15 ihrer Mitschüler aus verschiedenen Klassenstufen der Melanchthon-Schule ebenfalls auf die Veranstaltung vorbereitet, außerhalb des regulären Unterrichts. Sie führen andere Schüler durch die Jugendoppositionsausstellung.

„Der Schülertag ist ein Experiment“, sagt Margret Steffen, Leiterin der Stabsstelle Kommunikation der Behörde: „Sonst sind eher ältere Menschen gekommen, die selbst einen biografischen Bezug zu dem Thema hatten. Jetzt versuchen wir, die nächste Generation zu erreichen, für die es tatsächlich Geschichte ist. Das Motto des Projekttages ’Stasi- was geht mich das eigentlich an?’ ist für sie eine naheliegende Frage.“ Sie hofft, dass die Schüler sich durch den Projekttag damit beschäftigen, was die DDR-Diktatur und die Stasi mit ihrem Leben zu tun haben. „Wir wollen die Wahrnehmung bei den Schülern schärfen. Sie sollen merken, dass ihr Umfeld und die Familie noch heute davon geprägt sind, und überlegen, wie sie sich verhalten hätten.“ Es soll um die Frage gehen, ob die DDR eine Diktatur war. Denn bei Umfragen kam heraus, dass viele Jugendliche sie nicht mehr als solche wahrnehmen.

Anne vom Melanchthon-Gymnasium sagt: „Wir haben nicht mehr die emotionale Verbindung dazu.“ Ihre Eltern seien nicht mit dem Regime in Konflikt geraten, sondern hätten in der DDR ein relativ ruhiges Leben geführt. Ganz anders als der Wissenschaftler und Bürgerrechtler Robert Havemann, der wie Annes Eltern in Grünheide lebte und dort unter Hausarrest stand. Und Anne forscht heute im Archiv der nach dem Bürgerrechtler benannten Gesellschaft. „Der Kontakt zu der Gesellschaft kam über den Vater eines Schülers zustande“, sagt Guido Klage, Geschichtslehrer und Direktor des Docemus Campus Grünheide, zu dem außer dem Melanchthon-Gymnasium auch noch eine Oberschule gehört. „Seitdem haben wir die Beschäftigung mit dem Thema intensiviert.“ Sie übernehmen Ausstellungen und stellen ihre Räume für Veranstaltungen zur Verfügung, etwa für Podiumsgespräche mit Politikern – und Klage ermutigt seine Schüler oft, im Archiv der Gesellschaft zu forschen. Ihm liegt das Thema DDR-Aufarbeitung selbst ganz besonders am Herzen: „Ich war bei der Wende bei den Grenztruppen, und mich treibt die Frage an, wie es dazukommt, dass manche Menschen in repressiven Regimen Widerstand leisten und andere nicht.“

Sie würden das Thema DDR auf dem privaten Campus wesentlich intensiver und häufiger behandeln als im Lehrplan vorgesehen, sagt Klage. In vielen Familien seiner Schüler werde die DDR sehr einseitig wahrgenommen: „Entweder sie verdammen oder verklären sie. Die Schüler sollen lernen, die Situation selbst zu analysieren.“ Und so ein Verständnis für den Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur entwickeln und zu „mündigen Bürgern werden“. Bei den drei Elftklässlerinnen hat das schon ganz gut geklappt: „Ich müsste es wohl erst selbst erleben, wie ich mit den Einschränkungen eines Systems wie dem der DDR umgehen würde“, sagt Anne. Und Christina- Marie ergänzt: „Es hängt bei den meisten wohl von den Lebensumständen ab.“

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