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Elternprotest und Schülerdemo:
© Roland Münter, www.leibfotografen.de

Staatliche Europaschule Berlin: Aufbruchstimmung und Zukunftssorgen

Sie gelten als Berlins Vorzeigeprojekt. Dennoch wissen die Europaschulen zurzeit nicht, woran sie sind.

Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften: In allen drei Disziplinen schneiden Klassen der Staatlichen Europaschule Berlin (SESB) besser ab als Vergleichsklassen ohne das bilinguale Konzept. Dies ist nach Informationen des Tagesspiegels einer der zentralen Zwischenbefunde der ersten wissenschaftlich fundierten Evaluation des Berliner Vorzeigeprojektes. Noch im September soll die komplette „Europa-Studie“ von hochkarätigen Bildungsforschern und der Senatsverwaltung für Bildung vorgestellt werden. In die Freude über die guten Ergebnisse mischt sich Sorge um die Zukunft.

Vier Standorte wurden bereits verkleinert - trotz großer Nachfrage

Die Sorge ist vor allem eine Folge des Berliner Schülerzuwachses: Um Platz für Regelschüler zu schaffen, mussten bereits vier Grundschulen für Französisch und Englisch bereits eine Europa-Klasse abgeben, wie der Staatssekretär für Bildung, Mark Rackles (SPD), auf Anfrage der Grünen-Abgeordneten Stefanie Remlinger darlegte. Dies ist bilingualen Familien umso schwieriger zu vermitteln, als die Plätze ohnehin nicht reichen. So musste die englisch-orientierte Charles-Dickens-Grundschule gerade wieder über 30 Kinder auf die Warteliste vertrösten: Alljährlich muss gelost werden.

Das Dreilinden-Gymnasium wollte Europaschule werden: Antrag abgelehnt

Auch im Gymnasialbereich kann der Bedarf in Englisch kaum befriedigt werden: Dem Schiller-Gymnasium wurde nur ausnahmsweise gestattet, eine weitere Klasse aufzumachen. Das Dreilinden-Gymnasium bekam dennoch eine Absage auf ihren Antrag, Europaschule für Englisch zu werden. Die Familien sollten auf diese Weise wohl dazu gebracht werden, die Peter-Ustinov-Sekundarschule zu wählen, deren SESB-Zug nicht genug nachgefragt ist, vermuten betroffene Eltern.

2017/18 könnte es im Ostteil neue Standorte geben

Die Absage könnte auch damit zu tun haben, dass es ein Ost-West-Ungleichgewicht bei den SESB für Englisch und Französisch gibt: Die Ortswahl hatte sich vor knapp 25 Jahren bei der Gründung der Schulen nach dem damaligen Sitz der alliierten Streitkräfte gerichtet. Die Folge ist, dass es in den östlichen Bezirken keine Europaschulen für die stark nachgefragten Sprachen Englisch und Französisch gibt. Daher wird damit gerechnet, dass künftig die östlichen Bezirke zum Zuge kommen. Allerdings hat Rackles die Möglichkeiten stark eingeschränkt: Die Einrichtung weiterer SESB-Standorte „zum Schuljahr 2017/2018“ wird für Englisch nur für eine Grundschule „geprüft“, wie Rackles Stefanie Remlinger und auch dem Abgeordneten Philipp Magalski (Piraten) auf seine Anfrage hin mitteilte. Lediglich für Spanisch wird sowohl für eine Grund- als auch für eine Oberschule ein neuer Standort erwogen.

Knappe staatliche Angebote treiben die Eltern verstärkt zu bilingualen freien Schulen

Die Suche nach bilingualen Englischangeboten im öffentlichen Schulsektor bleibt für Eltern somit schwierig, während die entsprechenden Privatschulen weiter expandieren: Jahr für Jahr kommen neue Angebote hinzu, die sich nur Besserverdiener leisten können. Wer keine 500 Euro oder mehr pro Monat für Schulgeld übrig hat, bleibt auf die SESB, auf die staatliche Internationale Nelson- Mandela- oder auf die John-F.-Kennedy- Schule angewiesen, die stark übernachgefragt sind: Zwar soll in diesem Herbst eine zweite Internationale Schule entstehen, allerdings ist die Gründung von einem massiven Schulleitungsproblem an der Mandela-Schule überschattet und wurde auch schon mehrfach verschoben.

Den fehlenden Kapazitäten im Englisch-, Französisch- und Spanischbereich stehen Nachfrageprobleme in anderen Sprachen gegenüber: Nach wie vor gibt es nur wenige deutschsprachige Kinder, die an den SESB für Griechisch, Russisch oder Türkisch angemeldet werden. Zudem gehen einigen SESB-Standorten nach Klasse vier oder nach Klasse sechs massiv Schüler verloren, weil die Eltern eine Überforderung ihrer Kinder fürchten oder mit den Standortbedingungen nicht zufrieden sind. Auch dies dürfte die Studie belegen, die den Schulen schon präsentiert wurde: Sie wurden allerdings von der Bildungsverwaltung per Rundschreiben aufgefordert, der „Presse“ dazu keine Auskünfte zu geben, nachdem der Tagesspiegel sich um die Ergebnisse bemüht hatte. Es sei "unbedingt" die Verwaltung zu kontaktieren.

Und was ist nun mit der sozialen "Selektion"?

Von merkwürdiger „Heimlichtuerei“ sprechen Betroffene und hegen die Befürchtung, dass die SPD-geführte Bildungsverwaltung die Europaschulen schleifen könnte, weil die Studie den SESB-Familien einen „höheren sozioökonomischen Status“ bescheinigt. Mehrere Angehörige von Europaschulen berichten, dass Rackles anlässlich einer Vorab-Vorstellung der Europa-Studie sinngemäß von unerwünschten Selektionsmechanismen gesprochen habe. Was er damit konkret meinte, blieb unklar. Möglicherweise will die Bildungsverwaltung einen neuen Anlauf unternehmen, die Europaschulen noch konsequenter an Sekundarschulen anzugliedern statt an Gymnasien, lautet eine Theorie zu Rackles Äußerung.

Ein Beirat soll neue Impulse geben

Die andere Theorie ist aus Sicht der SESB-Befürworter noch pessimistischer und wurde von der Bildungsverwaltung bereits zurückgewiesen: Sie besagt, dass die SPD-Linke, zu der Rackles gehört, das ganze Modell infragestellen könnte, zumal es rund 100 zusätzliche Lehrerstellen kostet.

Diese Befürchtung allerdings hält Klaus Brunswicker für völlig unbegründet: Brunswicker gehört als langjähriger SESB-Kenner und ehemaliger Leiter der Sophie-Scholl-Sekundarschule dem von Rackles einberufenen „Beirat zur Weiterentwicklung der Europaschulen" an. Der Beirat solle den Europaschulen neue Impulse geben, umreißt Brunswicker die Aufgabe. Dies aber bedeute, „die Idee der SESB zu stärken und nicht zu schwächen“. Der Beirat soll zwar erst 2017 Vorschläge unterbreiten, die Stoßrichtung ist für Brunswicker aber schon erkennbar: „Das europäische Bewusstsein zu fördern und die 7000 Schüler der Europaklassen stärker mit den übrigen Klassen vernetzen“, damit die europäische Idee von den 31 Schulen mit SESB–Klassen und neun Sprachen als Ganzes getragen werde.

Die AG der Europa-Union ist in Sorge

Die Arbeitsgemeinschaft SESB der Europa-Union befürchtet dennoch, dass der immense Berliner Schülerzuwachs die Europaschulen in Bedrängnis bringen könnte. "Wir sind zuversichtlich, dass Senat und Politik hinter der Schulform stehen, machen uns aber Sorgen, dass SESB-Standorte wegen des Schulplatzmangels verdrängt werden könnten", beschreibt die AG-Vorstandsvorsitzende Caroline Schmidt-Lucke die aktuelle Stimmung. Für viele Eltern stellt sich die Frage, ob alle Bezirken die besondere Bedeutung des SESB-Angebots für mobile und bilinguale Familien zu würdigen wissen.

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