Schule in Berlin: Allein gelassen im Brennpunkt
Unser Autor hat erst als Vertretungslehrer an einer Grundschule in Berlin-Wedding gearbeitet und dann in Hellersdorf. Nun ist er desillusioniert. Ein Erfahrungsbericht.
Ich habe wunderbare Schüler. Sie sind schonungslos ehrlich, wenn es um meinen Unterricht geht. Sie sparen mit keiner Kritik. „Herr Lehrer, ich mache das nicht, weil das langweilig ist“, sagt ein Kind zu mir. Oder: „Lehrer, ich habe es mir anders überlegt, ich passe doch nicht auf.“ Jedes Kind hat seine Gründe, so zu sein, wie es ist. Meine Schüler sind aber auch gierig nach Wissen, Abwechslung und Neuem. Sie fragen. Pausenlos. „Wie wird das geschrieben?“, „Stimmt das?“, „Habe ich das richtig verstanden?“
Diese Kinder sind deshalb so wunderbar, weil sie sich trauen, sich gegen mich aufzulehnen. Sie haben den Mut, den Mund aufzumachen gegen einen Lehrer, gegen eine Autoritätsperson. Weil sie sich nicht alles gefallen lassen und eben nicht alles einer guten Zensur wegen mitmachen. Das ist beeindruckend und charakterstark. Diese Kinder sind nicht angepasst und noch nicht pädagogisch durchgewaschen.
"Eigentlich möchte ich den Kindern etwas beibringen"
Im September 2016 habe ich an einer Weddinger Grundschule als Vertretungslehrer angefangen. An einer, wie ich dachte, ganz normalen Berliner Schule. Ich unterrichte eine jahrgangsübergreifende Klasse, die Klassenstufen vier, fünf und sechs in Deutsch, Bildender Kunst, Naturwissenschaften, Erdkunde und Englisch. Sechs meiner Schüler haben den Status einer Lernbehinderung. Sie kommen alle aus verschiedenen Ländern. Ich habe seit drei Jahren Grundschullehramt studiert und wollte Praxiserfahrung sammeln, bevor ich zu Ende studiere. Davor habe ich bereits ein halbes Jahr unterrichtet. Allerdings in Heidelberg.
Nun also in Berlin. Ich bereite mich vor, bereite nach. Lese mir an, lerne die Klasse kennen. Unterrichte die ersten Stunden, den ersten Tag, die erste Woche. Aber ich stoße schnell an meine Grenzen. Eigentlich möchte ich den Kindern etwas beibringen. Dafür verdiene ich mein Geld. Aber dazu kommt es selten.
Schläge und Beleidigungen
Die Kinder sind nicht nur wunderbar und lieb. Oft bringen sie mich auch zur Weißglut. Ich unterrichte Kinder, die die einfachsten Sozialisationsformen und Regeln nicht beherrschen. Die sich schlagen, auf dem Pausenhof und in der Klasse; die sich massiv beleidigen. Ich frage mich: Was haben diese Kinder zu Hause erlebt? Welchen Aggressionen und Verletzungen waren sie ausgesetzt? Warum haben sie jeden Respekt verloren? Meine Schüler sind das, was man zum Großteil Bildungsverlierer nennt. Doch welche Möglichkeiten habe ich, diesen Kindern gerecht zu werden?
Manche Kinder an der Schule haben seit Schuljahresbeginn weder Englisch- noch Sportunterricht gehabt. Das Personal fehlt. Meine Klasse ist davon zum Glück nicht betroffen. Doch auch bei uns fällt viel aus. Die wenigen Doppelsteckungen, bei denen zwei Lehrkräfte eine Klasse gemeinsam unterrichten, werden aufgelöst, damit in anderen Klassen der Unterricht vertreten werden kann. Manchmal werden die Klassen aufgeteilt, weil Kollegen krank sind. Dann unterrichte ich eineinhalb Klassen.
Die Kinder rebellieren gegen Versorgungsunterricht
Meine Schüler sind nicht dumm. Sie rebellieren auf ihre Weise gegen „Versorgungsunterricht“, Chaos und Missstände: Sie sind laut und abgelenkt. Ich würde gerne mehr für sie da sein, ihnen zuhören, aber es geht nicht. Ich kann nicht allen gerecht werden. Die Kinder leiden. Und wir wundern uns. Sie sehnen sich nach Kontinuität, nach Wissen, Anerkennung. Gerade die Schule sollte ein Ort sein und etwas bieten, was es für die meisten meiner Schüler daheim nicht gibt: Sicherheit, Rückmeldung, Wertschätzung. Doch diese Schule ist das nicht.
Mitte November wechselte ich nach Hellersdorf und wurde als Klassenlehrer eingesetzt, obwohl ich eigentlich nur eine Vertretungskraft bin. Ich hoffte auf einen Neubeginn, eine neue Erfahrung, startete mit neuer Energie und Mut.
In Hellersdorf geht es ähnlich zu
Aber ich merkte schnell: Meine Erfahrung in Wedding ist kein trauriger Einzelfall. In Hellersdorf geht es ähnlich zu. Viele Krankmeldungen der Lehrer, dadurch gibt es permanent wechselnde Zuständigkeiten. Fast jeden Tag gibt es Auseinandersetzungen, die Kinder schlagen und bespucken sich. Oft müssen Streitigkeiten geklärt werden, sodass der Unterricht erst mit Verzögerung losgeht. Im Unterricht gibt es massive Störungen, durch Reinrufen, Aufstehen, Gerede.
Ich frage mich oft: Wohin soll das führen? Wie kam es soweit? Kann ich dessen Herr werden? Vielleicht habe ich ja bei der Wahl meiner Schule einfach nur Pech gehabt. Womöglich liegt es auch zum Teil an mir, weil mir die Erfahrung fehlt? Ich orientiere mich an den erfahrenen Lehrkräften, aber auch die wissen oft nicht weiter und zucken mit den Schultern, wenn ich sie um Rat bitte. Die Zustände an den Schulen stimmen mich traurig. Unser Sozialarbeiter meinte einmal: „Die Kinder sind ein Spiegel dessen, was hier alles misslingt.“
Was sich ändern muss
Es müssen sich Dinge ändern, wenn wir nicht so weitermachen wollen. Der Staat muss Geld in die Hand nehmen. Ich würde zum Beispiel in jeder Klasse eine Integrationshilfe einstellen. Es müsste kleinere Klassen geben. Dies sind bekannte Forderungen.
Profitieren könnten wir alle von einer besseren Förderung der Schüler. Wenn wir es schaffen, das Geld in den Schulen sinnvoll einzusetzen, wäre das eine Chance für meine Schüler, einen Ausbildungsplatz zu finden – schließlich werden Auszubildende dringend gesucht. Aber eine Lehrerin der Parallelklasse sagte zu mir: „Die Schüler vor Ihnen werden zum Großteil kriminell, arbeitslos oder landen auf der Straße.“
Ich bin gerne Lehrer, aber ich werde meinen Schülern nicht gerecht. Ich schaue sie an und frage mich: Wollen wir das? Wollen wir eine Gesellschaft mit Bildungsverlierern? Dann sollten wir genau so weitermachen. Aber dafür bin ich nicht Lehrer geworden.
Der Autor kam als Vertretungslehrer nach Berlin. Davor hat er drei Jahre Grundschullehramt studiert. Sein Name und die Schulen sind dem Tagesspiegel bekannt.