Berlins Schüler im Vergleich: Schreiben ungenügend
Bei Vergleichsarbeiten bleibt jeder zweite Schüler unter den Mindeststandards. Ein weiteres Problem: Lehrer sind nicht auf Kinder von Flüchtlingen vorbereitet.
Wenn Berlins Schüler an diesem Montag ihre Füller aus der Sommerpause holen und wieder versuchen, ohne Smartphone zu schreiben, dürfte bei den Lehrern die Urlaubsstimmung schnell vorbei sein: Die Schüler schreiben nämlich miserabel.
Dies ist zumindest das jüngste Ergebnis der Vergleichsarbeiten in den dritten Klassen. Demnach erfüllt die Hälfte der Drittklässler nicht einmal die Mindeststandards, die die Kultusministerkonferenz für die Rechtschreibung angesetzt hat: Sie können demnach maximal „lautgetreu“ schreiben, bringen also nur zu Papier, was sie hören. Der „Stuhl“ wird dann zum „schtul“, das „Fahrrad“ mutiert zum „varat“. Fachleute nennen das Ergebnis, das bisher nur verwaltungsintern diskutiert wurde, „alarmierend“.
An der Vergleichsarbeit, „Vera 3“ genannt, hatten 2014 rund 23.000 Schüler teilgenommen. Ausgewertet wurde sie vom Institut für Schulqualität (ISQ) Berlin-Brandenburg. Dabei kam auch heraus, dass selbst von den deutschstämmigen Schülern 45 Prozent an der untersten Hürde hängen bleiben. Bei den Klassenkameraden anderer Herkunftssprachen sind es 64 Prozent.
Ergebnisse in Brandenburg besser
Obwohl Vera 3 bundesweit geschrieben wird, ist ein Ländervergleich nicht möglich, da die meisten Bundesländer ihre Ergebnisse – anders als Berlin und Brandenburg – nicht veröffentlichen. In Brandenburg werden zudem keine separaten Zahlen für Kinder mit und ohne Migrationshintergrund erhoben. Hier gibt es nur einen Gesamtwert für alle Schüler. Demnach schafften im Nachbarland 42 Prozent der Drittklässler die Mindeststandards nicht. Durch eine parlamentarische Anfrage der Linken in Schwerin war zudem herausgekommen, dass in Mecklenburg-Vorpommern 37,4 Prozent der Kinder auf unterstem Level schreiben.
Besser als bei der Orthografie steht es ums Lesen. Hier waren in Brandenburg nur 16 Prozent auf der untersten Kompetenzstufe, in Berlin wurden 26 Prozent ermittelt. Aber auch beim Lesen sind die Kinder anderer Muttersprachen extrem benachteiligt: 45 Prozent können nicht im Entferntesten mithalten.
Dass diese Befunde nicht von der Senatsverwaltung für Bildung veröffentlicht wurden, sondern auf der Homepage des ISQ abgerufen werden müssen, liegt daran, dass Vera 3 in erster Linie nicht für die Öffentlichkeit, sondern für die Schulen gedacht ist: Sie sollen erfahren, wie es um ihre Schüler bestellt ist, um gezielter nacharbeiten zu können. Denn zum Ende der Klasse 4, wenn die Kinder bundesweit üblicherweise die Grundschule verlassen, sollen alle wichtigen Grundlagen für das Lesen und Schreiben gelegt sein.
„Es hapert bei den Lehrern offensichtlich an der Methodik“
Die Vera-Aufgaben orientieren sich daher am Anspruch der 4. Klasse, was bedeutet, dass sie von den Drittklässlern gar nicht befriedigend gelöst werden müssen. Das ISQ betont zudem, dass gerade bei der Rechtschreibung bis Klasse 4 noch „deutliche Kompetenzzuwächse“ zu erwarten seien. Dass allerdings die Hälfte der Schüler die Mindeststandards nicht schafft, ist weit von dem entfernt, was in Klasse 3 erwartet wird.
„Es hapert bei den Lehrern offensichtlich an der Methodik“, lautet die Einschätzung eines Schulrates, der nicht namentlich genannt werden möchte. Es müsse erheblich mit Fortbildungen nachgearbeitet werden, wenn man an diesen Befunden etwas ändern wolle. Das fehlende Handwerkszeug vieler Lehrer führe zum Beispiel dazu, dass Kindern eine pathologische „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ attestiert werde, obwohl sie einfach nur schlechten Unterricht gehabt hätten. Berlins Lehrer können die Methode selbst wählen.
Barbara John beklagt fehlende Forschung
Ein weiteres Problem besteht in den weiterhin großen Rückständen der Kinder mit Migrationshintergrund, die rund 35 Prozent eines Jahrgangs ausmachen: Trotz jahrelangen Kitabesuchs gelingt es noch immer nicht, diese Kinder an das Leistungsniveau der deutschstämmigen Kinder heranzuführen. Zwar gibt Berlin jährlich einen zweistelligen Millionenbetrag für Sprachförderung aus. Aber der Leistungsabstand zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund wird kaum kleiner.
Das hat zum einen damit zu tun, dass überproportional viele Migranten aus bildungsfernen Schichten kommen und zu Hause kaum gefördert werden können. Berlins ehemalige Ausländerbeauftragte Barbara John nennt aber noch einen weiteren Grund: Die Lehrer wüssten nicht gut genug, wie „Deutsch als Zweitsprache“ (DaZ) zu vermitteln ist.
Endlich eine Professur - aber nur Junior
Tatsächlich gibt es in Berlin noch immer keine gut ausgestattete Professur für das Fach. Das sei ein „entscheidender struktureller Fehler“, urteilt John. Berlin habe renommierte DaZ-Fachleute gehen lassen – an andere Universitäten, die sich der Aufgabe annehmen wollten. Selbst die Stadt Bielefeld, die weniger Einwohner als Berlin Schüler hat, leistet sich seit 2008 eine DaZ-Professur. In Berlin gibt es seit 2013 lediglich eine Juniorprofessur. Die entsprechende Wissenschaftlerin engagiert sich zurzeit im Mercator-Projekt "Sprachen-Bilden-Chancen", das sich seit 2014 mit den DaZ-Modulen der Lehramtsstudenten beschäftigt: für Fachleute immerhin ein Hoffnungsschimmer. Eine besser dotierte Stelle wurde zwar ausgeschrieben, ist aber befristet.
Angesichts von rund 150.000 Schülern mit Migrationshintergrund und ihrer anhaltend schlechten Ergebnisse in allen Leistungsvergleichen stellt sich für viele Fachleute die Frage, wie die Stadt den mindestens 5000 Flüchtlingen gerecht werden kann, die ab diesem Montag in den Willkommensklassen angemessen gefördert werden sollen. „Ich würde diese Klassen eher ,Verzweiflungsklassen‘ nennen“, sagt FU-Grundschulforscher Jörg Ramseger, „denn die Lehrer sind hilflos und die Behörde auch“. Seines Erachtens müssten die Lehrer viel mehr Supervision und Unterstützung bekommen, um die Arbeit in den Willkommensklassen meistern zu können.