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Der Mensch sollte im Mittelpunkt sein. Das neue Pflegetransparenzsystem, das im Oktober startete, soll ermitteln, ob es auch so ist.
©  Oliver Berg/dpa

Wie werden Heime bewertet?: Relaunch für den Pflege-TÜV

Angehörige und Betroffene brauchen Orientierung bei der Pflegeheim-Wahl. Dafür gab es bisher ein Bewertungssystem, das aber zu verzerrten Ergebnissen führte. Seit Herbst 2019 wird ein neues eingeführt. Was ändert sich? Fragen und Antworten.

Warum wird das bisherige Notensystem jetzt reformiert?

Das alte, 2009 eingeführte Bewertungssystem ist gescheitert. Alle stationären Pflegeeinrichtungen wurden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) anhand von 77 Kriterien mit Schulnoten bewertet. Doch selbst die Prüfer des MDK, die die Kontrollen in den Pflegeheimen durchführten, hielten das alte Verfahren und die Darstellung in Form von Gesamtnoten für intransparent und nicht aussagekräftig. Um eine 1,0 zu erreichen, mussten lediglich Mindeststandards erreicht werden. So wundert es nicht, dass der bundesdeutsche Durchschnitt bei 1,2 lag. Der war in der Tat zu „sehr gut“, um wahr zu sein. Auch die Darstellung als Gesamtnote war irreführend: Gravierende Pflegemängel, wie beispielsweise nicht angeordnete Fixierungen eines Bewohners, konnten mit schwachen Prüfkriterien wie einem ausreichend groß gedruckten Speiseplan wettgemacht werden. Das Notensystem wurde so zu einem Marketinginstrument der Pflegeheimbetreiber.

Was kommt stattdessen?

Mit Bestnoten selbst für schlechte Pflege soll künftig Schluss sein. Seit Oktober gilt ein neues Bewertungssystem. „Der neue Pflege-TÜV ist ein zweiteiliges Prüfsystem, das sich auf intern von den Heimbetreibern ermittelte Daten zur Versorgungsqualität und externe durch den MDK durchgeführte Qualitätskontrollen stützt“, sagt Klaus Wingenfeld. Er ist als wissenschaftlicher Geschäftsführer des Instituts für Pflegewissenschaft (IPW) der Universität Bielefeld in Zusammenarbeit mit dem Aqua-Institut für die Entwicklung des neuen Konzepts verantwortlich. Die Ergebnisse dieser intern und extern erhobenen Daten werden zusammen mit freiwilligen Angaben der Heimbetreiber auf Internetportalen der Pflegekassen veröffentlicht.

Welche Daten müssen Heime übermitteln?

Die Pflegeheime erfassen halbjährlich ihre Versorgungsergebnisse, aus denen 15 sogenannte Ergebnisindikatoren gebildet werden, um die Qualität der Pflege zu bewerten. Dazu gehört unter anderem, wie mobil und selbstständig die Bewohner sind, wie viele Bewohner an Druckgeschwüren oder den Folgen von Stürzen leiden oder ob Bewohner mit Gurten fixiert wurden. Dabei werden alle Bewohner einer Einrichtung einbezogen.

Und was ändert sich bei der MDK-Prüfung vor Ort?

Während der MDK bisher unangemeldet prüfte, müssen Kontrollen in Zukunft einen Tag im Voraus angekündigt werden. Wie im alten System wird die Pflegequalität anhand einer Stichprobe von neun Bewohnern erhoben. Die Prüfer sprechen mit diesen Bewohnern und nehmen sie in Augenschein, um den Pflegezustand zu beurteilen. Stellen die Prüfer dabei beispielsweise ein Hautproblem fest, gilt es zu ergründen, ob dieses durch eine mangelhafte Pflege verursacht wurde oder ob es etwa durch vorbeugende Maßnahmen hätte verhindert werden können. „Die Prüfer des MDK müssen künftig die Frage beantworten, ob für Pflegebedürftige negative Folgen entstanden sind, die in der Verantwortung der Einrichtung liegen, oder ob die Gefahr besteht, dass negative Folgen eintreten könnten“, erklärt Wingenfeld.

Neu ist, dass die MDK-Mitarbeiter nun vor allem die zuständigen Pflegekräfte konsultieren, während im alten System lediglich die Unterlagen der Pflegedokumentation studiert wurden. „Früher galt, was nicht dokumentiert wurde, hat nicht stattgefunden“, sagt Wingenfeld. Zukünftig ist nicht mehr entscheidend, welche Pflegemaßnahme dokumentiert wurde, sondern was tatsächlich getan wurde und zu welchem Ergebnis dies führte.

Für die Pflegenden dürfte das eine gewisse Entlastung vom Papierkram bedeuten, klagten diese doch über überbordende und zeitraubende Dokumentationspflichten. „Dafür müssen jedoch die Pflegekräfte den MDK-Mitarbeitern die jeweils getroffenen Pflegemaßnahmen im Gespräch gut begründen können“, sagt Wingenfeld. Im Dialog, so die Erfahrung des Pflegewissenschaftlers, zeige sich viel deutlicher, ob die Pflegenden ihre Arbeit verstünden und sorgfältig verrichteten. Zu den Aufgaben des MDK wird es auch gehören, die Heime konkret zu beraten, wie sie Defizite beheben können.

Wer prüft, ob die Angaben der Heimbetreiber korrekt sind?

Die intern von den Pflegeheimen erhobenen Daten werden von der Datenauswertungsstelle (DAS) geprüft. Sie wurde eigens für diesen Auftrag gegründet und wird vom Aqua-Institut betrieben. Die DAS prüft die übermittelten Daten auf statistische Plausibilität, ob sich beispielsweise die Angaben widersprechen oder nicht aktualisiert wurden. Eine faktische Prüfung nimmt die Einrichtung nicht vor. Das soll die Aufgabe des MDK sein. Dazu prüft der MDK bei der externen Regelprüfung bei sechs der neun Bewohner, ob die von der Einrichtung übermittelten Angaben zur Gesundheit der Bewohner plausibel sind und das Gesamtbild vor Ort zu dem passt, was das Heim an die Datenauswertungsstelle gemeldet hat.

Wie werden die von den Pflegeheimen ermittelten Qualitätsindikatoren dargestellt?

Die Indikatoren werden mit dem bundesweit ermittelten Durchschnitt verglichen und jeweils anhand eines Fünf-Punkte- Systems dargestellt. Fünf Punkte bedeuten, dass das Ergebnis „weit über dem Durchschnitt“ liegt. Bei vier Punkten liegt es „leicht über dem Durchschnitt“, bei drei Punkten „nahe beim Durchschnitt“, bei zwei Punkten „leicht unter dem Durchschnitt“ und bei einem Punkt „weit unter dem Durchschnitt“. Erreicht die Einrichtung beispielsweise bei dem Indikator „Entstehung von Druckgeschwüren“ nur einen Punkt, heißt das, dass das Heim weit mehr Bewohner mit einem Dekubitus hat als andere Häuser und sich zu wenig bemüht, seine Bewohner davor zu schützen. Fünf Punkte beim Indikator „unbeabsichtigter Gewichtsverlust“ zeigen, dass die Einrichtung deutlich besser als viele ihrer Konkurrenten die Ernährung ihrer Bewohner überwacht und auf Ernährungsprobleme erfolgreich reagiert.

Wie werden die Ergebnisse der MDK-Kontrollen dargestellt?

Die Bewertung durch externe Prüfer wird anhand eines Vier-Punkte-Systems dargestellt. Bei vier Punkten liegen „keine oder geringe Qualitätsdefizite“ vor, bei drei Punkten sind es „moderate Qualitätsdefizite“, bei zwei Punkten „erhebliche Qualitätsdefizite“ und bei nur einem Punkt werden „schwerwiegende Qualitätsdefizite“ attestiert. Erhält ein Heim demnach vier Punkte in der „Wundversorgung“, haben die Kontrolleure keine oder nur marginale Mängel gefunden. Ein Punkt in der Kategorie „Unterstützung bei Essen und Trinken“ hieße, dass de facto kaum bei der Nahrungsaufnahme geholfen werde. „Erhält ein Heim nur ein oder zwei Punkte in einer Kategorie, müssen die Alarmglocken läuten“, sagt Wingenfeld.

Was passiert, wenn Mängel festgestellt werden?

Bei Mängeln empfehlen die Kontrolleure konkrete Maßnahmen, um die Defizite zu beseitigen. Die Pflegekasse kann Auflagen erteilen, eine Wiederholungsprüfung durch den MDK veranlassen, die Vergütung mindern oder auch den Versorgungsvertrag kündigen.

Was beinhaltet der Informationsteil?

Die Qualitätsdarstellungen auf den Internetportalen der Pflegekassen werden auch einen allgemeinen Informationsteil zu der jeweiligen Pflegeeinrichtung enthalten. Diese Angaben werden von den Einrichtungen selbst gemacht. Neben Kontaktdaten, Bettenkapazität, Ausstattungsmerkmalen, Versorgungsschwerpunkten, Fachkraftquote, Personalfluktuation oder Fremdsprachenkenntnissen können beispielsweise auch religiöse oder soziale Angebote angegeben werden.

[Diesen und weitere Texte finden Sie im aktuellen Gesundheitsratgeber „Tagesspiegel Pflege“. Darin unter anderem: übersichtliche Tabellen zu den Preisen Berliner Pflegeheime, aufgeschlüsselt nach Bezirken. Das Magazin kostet 12,80 Euro und ist erhältlich im Tagesspiegel-Shop, www.tagesspiegel.de/shop, Tel. 29021- 520 sowie im Zeitschriftenhandel.]

Wo und wie werden die Ergebnisse veröffentlicht?

Ab Frühjahr 2020 sollen erste Ergebnisse auf den Internetportalen der Pflegekassen veröffentlicht werden. Bis Ende 2020 soll für jedes Heim ein erstes Ergebnis vorliegen. Erstmals sollen die Einrichtungen auf einen Blick anhand von Kriterien, die der Nutzer selbst auswählen kann, direkt miteinander verglichen werden können.

Wird das neue System endlich Klarheit über die Pflegequalität bringen?

Viele Pflegeexperten halten das neue System für einen Schritt in die richtige Richtung. Die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen (BIVA) kritisiert jedoch, dass die Bewertung der intern erhobenen Versorgungsergebnisse im Vergleich zum Durchschnitt aller Einrichtungen erfolgt. „Das bedeutet im Prinzip, dass bei einem niedrigen Durchschnittswert das beste Ergebnis immer noch bedeuten kann, dass es Fehler bei der Pflege gibt“, kritisiert die BIVA in einer Stellungnahme. Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, plädiert weiterhin für ein zusammenfassendes Gesamtergebnis, um Pflegeheimsuchenden eine schnelle Orientierung bieten zu können. Zudem fordert er K.O.-Kriterien: Heime, die bei Schmerztherapie, Wundversorgung, dem Umgang mit Fixierung oder der Medikamentengabe nicht grundlegende Standards erfüllten, dürften insgesamt die Prüfung nicht bestehen. Der Pflegekritiker Claus Fussek (Interview im aktuellen Magazin "Tagesspiegel Pflege") wird noch grundsätzlicher: Er hält selbst das beste Prüf- und Bewertungsverfahren für Makulatur, solange es nicht ausreichend qualifiziertes Pflegepersonal gibt. Denn wo Personal fehle, sei gute Pflege unmöglich.

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