Vorwurf der "Fahndung zweiter Klasse": Polizisten: Haben im Fall Mohamed umfassend ermittelt
Der Vorwurf einer „Fahndung zweiter Klasse“ im Fall des ermordeten Flüchtlingsjungen Mohamed empört Berliner Polizisten. Sie hätten umfassend ermittelt - trotz widersprüchlicher Aussagen der Mutter des Jungen.
„Mohamed war aufgeweckt und wissbegierig“, sagt Vaja Marcone: „Er hatte an einer von uns organisierten Malgruppe in der Nähe des Reinickendorfer Flüchtlingsheims, wo seine Familie wohnte, teilgenommen. Wir waren tief erschüttert über seinen Tod.“
Erschüttert waren viele, als die Leiche des am 1. Oktober 2015 am Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführten Flüchtlingskinds fast genau vier Wochen später im Auto des 32-jährigen Silvio S. entdeckt wurde. Polizisten hatten Tränen in den Augen, auch Benedikt Lux bekennt: „Ich habe erst einmal geweint.“ Jetzt hat der innenpolitische Sprecher der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus allerdings scharfe Kritik an der Polizei geübt. Wie berichtet, wirft er ihr vor, nachlässig ermittelt und vorrangig die Familie des Jungen verdächtigt zu haben. Ausgehend von einem „Spiegel“-Bericht, der den Berliner Kriminalisten unter anderem eine „Fahndung zweiter Klasse“ unterstellt, fordern die Grünen eine gründliche Untersuchung des Falls.
Wenn es Fehler gab, muss man sie auswerten
Doch was ist dran an den Vorwürfen? Gab es Ermittlungspannen? Und wurden diese gar durch Vorurteile der Polizei ausgelöst? „Wenn es Fehler gegeben haben sollte, muss man diese selbstverständlich auswerten“, sagt der Berliner Landesvorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Michael Böhl: „Aber ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass kein einziger meiner Kollegen weniger schnell und sorgfältig ermittelt hat, weil es sich um ein Flüchtlingskind handelte.“ Laut Böhl machen die Vorwürfe viele Berliner Ermittler betroffen, die sich allerdings derzeit nur schwer rechtfertigen könnten, weil die Pressehoheit im Fall Mohamed allein bei der Staatsanwaltschaft Potsdam liegt. Auch Berlins Polizeisprecher Stefan Redlich kann nur wiederholen, was er im Fall Mohamed schon öfter gesagt hat. „Es gab am Anfang sehr viele Unstimmigkeiten in den Aussagen von Mohameds Mutter, denen wir nachgehen mussten. Das hat aber nichts mit einem Generalverdacht gegen die Familie oder gar Ermittlungen gegen sie zu tun.“
Keine Parallelen zu NSU-Morden
Tatsächlich hatte Mohameds Mutter zunächst unterschiedliche Angaben zum Verschwinden ihres Sohns gemacht. So gab sie wohl anfangs an, sie hätte den Jungen mitgenommen, als sie endlich an der Reihe war. Später stellte sich heraus, dass dies nicht stimmte – ebenso wenig wie weitere Angaben über den angeblichen Aufenthalt des Kindes.
Polizeisprecher Redlich will dazu nichts sagen. Er bestätigt lediglich, dass in alle Richtungen ermittelt wurde: „Natürlich mussten unsere Kollegen allen Hinweisen nachgehen. Es ist ja nicht völlig ungewöhnlich, dass Kinder von Familienangehörigen entführt werden.“
Parallelen zu den teilweise einseitigen Ermittlungen in den Mordfällen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) weisen die Berliner Kriminalisten weit von sich. „Jeder von uns würde alles tun, um ein entführtes Kind zu retten“, sagt einer von ihnen: „Und keinen interessiert da, ob es Mohamed oder Stefan heißt.“
Am gleichen Tag Gelände abgesucht
Man habe auch, aber keinesfalls nur oder auch nur vorrangig im familiären Umfeld ermittelt, heißt es, sondern bereits am Tag von Mohameds Verschwinden das gesamte Lageso-Gelände und auch die umliegenden Straßen und Parks gründlich abgesucht. Am zweiten und dritten Tag seien Plakate mit dem Bild des Jungen und der Bitte nach Hinweisen verteilt, am vierten Tag die Öffentlichkeitsfahndung eingeleitet worden.
Dass man erst am sechsten Tag nach dem Verschwinden mit Spürhunden nach Mohamed gesucht hat, begründet die Polizei später damit, dass wegen der widersprüchlichen Aussagen der Mutter lange nicht klar war, wo genau der Junge zuletzt gesehen wurde und wo man also die Spürhunde ansetzen konnte.
Falsche Aussage zu Überwachungskameras
Schwer nachvollziehbar ist jedoch, warum erst Tage nach dem Verschwinden des Jungen die Videoaufzeichnung aus einer Überwachungskamera entdeckt wurde, auf der zu sehen ist, wie Mohamed am 1. Oktober gegen 14.40 Uhr an der Hand eines Unbekannten das Lageso-Gelände verlässt. Laut „Spiegel“ hatten sich die Ermittler auf die Aussage eines Angestellten der Sicherheitsfirma verlassen, wonach es keine Überwachungskameras gäbe. Dieser soll aber nur einen bestimmten Bereich gemeint haben, zudem seien die Kameras sichtbar am Lageso-Gelände angebracht. Polizeisprecher Redlich ist sicher, dass die Ermittler nicht nach Kameras, sondern danach gefragt haben, ob es Aufzeichnungen gibt. Dies sei verneint und erst später revidiert worden. Das sei möglicherweise ein Fehler gewesen, sagt BDK-Chef Böhl: „Wenngleich die Kollegen keinen Grund hatten, der Aussage des Sicherheitsmannes zu misstrauen.“
Große Wiederholungsgefahr
Ob man Mohamed hätte retten können, wenn das Video unmittelbar nach der Entführung entdeckt und sofort eine Großfahndung ausgelöst worden wäre? Der Junge wurde nach bisherigen Ermittlungen am Morgen nach seinem Verschwinden von Silvio S. getötet. „Zumindest hätte man den Tatverdächtigen schneller überführen können“, sagte der BDK-Bundessprecher für Prävention und Opferschutz, Hermann-Josef Borjans, am Sonntag dem Tagesspiegel: „Gerade bei Sexualverbrechern ist die Gefahr ja groß, dass Täter ein weiteres Mal zuschlagen.“ Für Borjans sind im Fall Mohamed noch einige Fragen offen. Deshalb fordert er, dass die Verantwortlichen bei Polizei und Politik rückhaltlos die Fakten offenlegen. Man solle zunächst den Prozess abwarten, meint hingegen ein Anwalt von Mohameds Mutter. Zur Kritik an der Polizei möchte er sich nicht äußern – auch, weil die Situation für seine Mandantin ohnehin schon schwer genug sei.
Urvertrauen eines Kindes missbraucht
Das sagt auch Vaja Marcone. Ihr Sohn Giuseppe war 2011 auf der Flucht vor Schlägern vor ein Auto gelaufen und gestorben. Die nach ihm benannte Stiftung kümmert sich um Opfer von Gewalttaten. „Am schlimmsten ist, dass Mohamed noch so ein Urvertrauen in Erwachsene hatte“, sagt Vaja Marcone. Sie kann verstehen, dass die Mutter auch aus Schuldgefühlen heraus nicht sofort die Wahrheit sagte. Sie hätte so lange vor dem Lageso gewartet und als sie endlich dran gekommen sei, habe sie wohl einen Bekannten gebeten, nach Mohamed zu schauen. „Sie hat sich aber auch darauf verlassen, dass dem Kind nichts passieren kann“, sagt Vaja Marcone: „Das war sie aus ihrer Kultur, wo man in den Großfamilien aufeinander achtet, so gewohnt. Und außerdem konnte sie sich wohl wie viele Flüchtlinge nicht vorstellen, dass es in dem Land, das sie für sie perfekt und gut halten, auch so böse Menschen gibt.“