Erstmals konkrete Zahlen: Polizei sitzt noch auf 1,7 Millionen Handydaten
Bei der Fahndung nach Autobrandstiftern wurden 960 Telefonnutzer ohne ihr Wissen überprüft. SPD und Grüne zeigen Verständnis für die Aktion. Doch Juristen sehen Lücken im Gesetz.
Die Polizei hat bei der Fahndung nach Autobrandstiftern in 375 Ermittlungsverfahren massenhaft Handydaten ausgewertet. Insgesamt wurde dabei auch 960mal der Name eines Anschlussinhabers überprüft. Darüber hat die amtierende Polizeipräsidentin Margarete Koppers am Montag den Innenausschuss des Abgeordnetenhauses informiert.
Von den Abfragen hatten die Betroffenen nichts erfahren. Außerdem seien in mindestens 38 anderen Staatsschutzermittlungen ebenfalls Handydaten ausgewertet worden, sagte Koppers. In Justizkreisen hieß es, bei diesen Fällen gehe es etwa um Angriffe auf NPD-Funktionäre. Außerdem dürfte es um folgenreichere Anschläge – etwa auf Bahnanlagen – gegangen sein, denn Koppers zufolge sind Daten an die Generalbundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt weitergegeben worden.
Insgesamt sind wohl 4,2 Millionen Verkehrsdaten erhoben worden, 1,7 Millionen davon sind nicht gelöscht. Koppers erklärte, dass in Berlin aber täglich rund 40 Millionen Verbindungen durch Handys anfallen – Gespräche, SMS, E-Mails. Die Zahlen umfassen nur Staatsschutzsachen, zu denen in Berlin auch Autobrände gezählt wurden. Die Polizei nutzt die Methode auch bei anderen Delikten. Wie oft Funkzellen ausgewertet werden, ist also nicht bekannt.
Nicht klar ist, ob Telefonverbindungen auch nach Zündeleien in Hausfluren ausgewertet werden. So waren in der Nacht zu Sonnabend in Hellersdorf und Kreuzberg Kinderwagen in Hausfluren angesteckt worden. Ermittler könnten geltend machen, dass es sich um schwere Fälle versuchter Brandstiftung handele, die eine Auswertung örtlicher Mobiltelefonaktivitäten rechtfertigten. Zu laufenden Verfahren äußere man sich nicht, erklärte die Staatsanwaltschaft.
Koppers zufolge hat die Funkzellenauswertung in keinem Fall direkt zu einem Tatverdächtigen geführt. Allerdings sprach sie den Fall des Autobrandstifter André H. an, der von Juni bis August 2011 insgesamt 67 Autos in Brand gesetzt und dabei 35 weitere Fahrzeuge angesteckt haben soll. Koppers sagte, seine Handynummer sei an vier Tatorten aufgetaucht. Damals habe die Staatsanwaltschaft aber gegen den Willen der Polizei und aus Gründen der Verhältnismäßigkeit abgelehnt, gerichtlich zu beantragen, dass der Name des Handybesitzers ermittelt würde. Dieses Vorgehen habe man erst gewählt, wenn ein Handy an fünf Tatorten registriert worden sei.
Kritik kam von der Opposition. Pirat Christopher Lauer sagte, es sei unverständlich, warum man eine Ermittlungsmethode verteidige, die schwer in Grundrechte eingreife und in vier Jahren zu keinem Ergebnis geführt habe. SPD-Rechtsexperte Sven Kohlmeier sagte, die Polizei habe unter erheblichem Druck gestanden, angesichts dessen sei die Empörung nicht ganz ehrlich. Die Grünen äußerten sich ähnlich. Klar ist, dass das Thema bislang weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat eine Rolle spielte, die Sicherheitspolitiker interessierten sich nur für die klassische Überwachung von Telefonanschlüssen und das Abhören von Gesprächen. Anfang November 2011 stellte die Linken-Abgeordnete Marion Seelig eine Anfrage, in der es auch um die Funkzellenauswertung ging, die aber die Innenverwaltung bis heute nicht beantwortete. Auslöser der aktuellen Debatte ist ein Fall aus dem Herbst 2009, bei dem sich die Polizei nach einem Autobrand in Friedrichshain die Handydaten von 13 Funkzellen in Tatortnähe geben ließ – samt Rufnummern von Anrufern und Angerufenen, Uhrzeit und Gesprächsdauer.
Der Landesdatenschutzbeauftragte Alexander Dix kritisierte, dass die Betroffenenen nicht informiert wurden. Juristen begründen dies mit „Lücken im Gesetz“. In den meisten Fällen sind Ermittlungsrichter am Amtsgericht Tiergarten für derlei Anträge der Staatsanwaltschaft zuständig. Ist der Verdacht begründet, dass jemand eine Straftat von „erheblicher Bedeutung“ begangen hat, dürfen auch ohne Wissen des Betroffenen seine Telefondaten erhoben werden. Solche Maßnahmen dürfen auch ergriffen werden, wenn „Dritte unvermeidbar mitbetroffen“ sind. So sei es in den bewilligten Fällen gewesen, sagte Gerichtssprecher Tobias Kaehne. Die Auswertung muss aber verhältnismäßig sein – und ob sie das immer war, bezweifeln auch Juristen.
„Anders als bei der Anordnung von Untersuchungshaft hat es der Richter bei einer Funkzellenabfrage nur mit der Staatsanwaltschaft zu tun, nicht mit einem Bürger, der raus will und auch noch einen Anwalt zur Seite hat“, erklärte der Rechtsanwalt Sönke Hilbrans, Vize-Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Datenschutz. „Viele richterliche Genehmigungen sind wortwörtlich wie die Anträge der Staatsanwaltschaft formuliert.“ Auch Tobias Singelnstein, Strafprozessrechtler an der Freien Universität, zweifelt daran, ob alle im Zusammenhang mit Autobränden angeordneten Datenerfassungen rechtlich angemessen sind: „Sie sind nur zulässig, wenn es Anhaltspunkte gibt, dass sie Erfolg haben könnten, dass also Täter im zeitlichen Zusammenhang mit der Tat ihr Handy benutzt haben.“ Die Begründung, ein Teil der nach Autobränden festgenommenen Verdächtigen habe Mobiltelefone dabei gehabt, reiche dafür wohl kaum. „Schuhe hat ja heutzutage auch jeder an“, sagte Singelnstein.
Koppers sagte, in keinem Fall habe die Berliner Polizei, wie 2011 in Dresden geschehen, in Verbindung mit einer Demonstration Handydaten ausgewertet. Auch seien nur tatsächlich benutzte Handys erfasst worden.