Andrej Holm spricht in Kreuzberg über Wohnungsnot: Warum Künstler und Kreative nicht an der Gentrifizierung schuld sind
Soziologe Andrej Holm sprach im Kreuzberger Monarch über Engels Text „Zur Wohnungsfrage“. Die ist für ihn ein Teilproblem des Kapitalismus.
Zwanzig Minuten vor Veranstaltungsbeginn und der kleine Raum des Monarchs am Kottbusser Tor ist nahezu voll — wer jetzt noch kommt, muss sich entscheiden, ob er sich ein Getränk holt oder schnell noch einen der letzten Plätze sichert. Die beengten Platzverhältnisse spiegeln physisch das Problem, um das sich der Abend drehen wird: Wohnungsnot.
Gentrifizierungsexperte und Ex-Staatssekretär Andrej Holm spricht über Friedrich Engels Text „Zur Wohnungsfrage“ von 1872/73. So wird Brechts berühmte vierte Wand durchbrochen: Das Publikum erleidet das Geschehen auf der Bühne, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen echtem Leben und Spiel.
Allein, es ist gar kein Spiel, denn unter den Anwesenden, das hört man aus ihren Gesprächen, sind echte, von der wahren Tragödie Betroffene. Und die haben sowieso Angst. Unter ihnen ist zugleich auch die Bedrohung — und manchmal sind Bedrohung und Angst in derselben Person vereint — die Lage ist kompliziert. Wir befinden uns im symbolischen Epizentrum der Gentrifizierung der Stadt mit Fensterblick auf den Bahnhof Kottbusser Tor und die vorüberfahrende U1.
In Prenzlauer Berg wütet nichts mehr
Genau da also, wo die Verdrängung wütet, aber der Widerstand noch stark ist. Anderswo, etwa in Prenzlauer Berg und Mitte, wütet nichts mehr — der Vorgang ist dort längst abgeschlossen, ehemalige Mieter verdrängt, die soziale Struktur vollkommen verändert. Aufgewertet, wie manche Investoren sagen würden, zum Besseren der Anwohner. Der neuen, zahlungskräftigen Anwohner, betont eine Zuhörerin.
Zum Einstieg in den Vortrag, sagt Holm, habe er ein kleines Quiz vorbereitet, also doch wieder ein Spiel: Ein beidseitig bedrucktes Papier im A4-Format mit Zitaten, die das Publikum im Multiple Choice Verfahren den Autoren zuordnen soll. Die Menge der Bögen ist unzureichend, so viel Publikum habe niemand erwartet, aber wenn sich immer zwei zusammenfänden beim Lösen, entstehe ja etwas Gemeinschaftlichkeit, sagt Holm.
„Ich denke mir das jetzt als Kneipenquiz — sagt man das noch, Kneipe? So zum Kennenlernen“, auf einen Univortrag habe er keine Lust. Etwas über eine Stunde später wird Holm dem Publikum gestehen, dass das Spiel schon der Vortrag war – der war nämlich in seinen Ausführungen zu den Antworten versteckt.
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Aber was hat denn nun Engels 150 Jahre alter Text für eine Bedeutung für die Berliner Gegenwart? Die Wohnsituation Mitte des 19. Jahrhunderts, geprägt von Industrialisierung und Urbanisierung, bedeutete eine Explosion der Nachfrage bei knappem Angebot — hatte also Parallelen zur heutigen Wohnungsnot.
Zunächst ist die Wohnungsfrage für Engels nicht die wichtigste soziale Frage der Zeit, sondern nur ein Teilproblem des Kapitalismus. So hätte Engels auch nicht an den Traum geglaubt, Immobilien durch genossenschaftlichen Kauf dem Markt zu entreißen. Auch so entstehe bloß Besitz, der über kurz oder lang derselben Logik des Kapitals folgen müsse, wie zuvor. Außerdem seien auch in Genossenschaften die Ärmsten ausgeschlossen.
Das Kapital Muss beobachtet werden
Die gerne romantisierte Umwandlung von Mietern in Eigentümer bedeute im Prinzip zudem eine Erhöhung der Nachfrage und trage nur zur Preissteigerung bei — mehr potenzielle Käufer bedeuten schlicht mehr Kapital im Spiel, und das sei der Kern des Problems. Engels räumt nämlich schon vor 150 Jahren mit der noch heute gängigen Vorstellung auf, Gentrifizierung sei eine Folge bestimmter Lebensstile, nach der erst die Kreativen kämen und eine gewisse Bohème, dann, davon angelockt, das Bürgertum – und so der Wert einer Gegend steige.
Man müsse stattdessen allein das Kapital beobachten. Nicht Künstler und Kreative bewirkten Gentrifizierung sondern die Zufuhr von Kapital in eine Stadt. Erst wenn genug Kapital da ist, wenn also der Markt sich den Boden erschlossen hat, entstünden Ertragserwartungen, die dazu führen, dass Häuser zu Preisen gekauft werden, deren Refinanzierung über Mieteinnahmen unter gegebenen Verträgen utopisch wäre.
In Moabit steigen die Preise, nicht aber der Lebensstandard
Ein aktuelles Beispiel dafür sei das alles andere als hippe Moabit, wo der Trend allein am Anstieg der Quadratmeterpreise abzulesen sei, ganz ohne Hype um ein besseres, hipperes Leben. Der Staat hat übrigens bei Engels kein Interesse an der Lösung des Wohnproblems, weil die Lösung eine Änderung des Status Quo bedeuten würde und folglich die Abschaffung der Verhältnisse, die die Regierung an der Macht halten.
Was Engels nicht kannte, so Holm, sei ein starker, intervenierender Staat, der gerade als Gegenpol zum Markt fungieren könne. Der könne auch enteignen und umverteilen, er brauche nur hin und wieder die richtigen Anstöße von Initiativen, Syndikaten und Nachbarschaften, die sich organisierten und auf die Straße gingen, Volksentscheide bewirkten und die Politik unter Druck setzten — die letzten Jahre seien in dieser Hinsicht eine beispiellose Erfolgsgeschichte.
Holm spricht durchweg von „uns“ und einem „wir“ und „der anderen Seite“ — er wähnt sich hier im Heimspiel. Irgendwann ergreift eine Eigentümerin das Wort, die versucht, das Gespräch auf die Probleme derer zu lenken, die sich eine Wohnung mühsam zur Altersabsicherung abgespart hätten aber mit dem neuen Wohneigentumsgesetz faktisch enteignet würden. Die Antwort Holms kommt verhalten: „Es zeigt nur, dass das Versprechen, sich aller Probleme durch Kauf zu entledigen, ein Märchen ist.“ Und es zeige auch, wie wichtig Solidarität und Organisation sei, wenn man was bewegen will.
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