Wie neutral darf Schule sein?: „Politische Bildung ist nicht wertneutral“
Die AfD will nicht Gegenstand kritischen Schulunterrichts sein. Doch wenn es um Rassismus geht, gibt es keine Neutralität, sagt das Institut für Menschenrechte.
Im vergangenen Jahr machte die AfD Schlagzeilen mit einem Portal, auf dem Lehrerinnen und Lehrer gemeldet werden konnten, die angeblich gegen die Neutralitätspflicht verstießen - etwa indem sie im Politik- oder Geschichtsunterricht kritisch Position zur AfD bezogen. Was die Landespartei in Hamburg begonnen hatte, wurde danach, teils verändert, von anderen AfD-Landesverbänden übernommen, unter heftigem Protest. Eltern-, Schülerinnenverbände und Lehrkräfte protestierten, einige zeigten sich auch selbst an oder produzierten ironische Fake-Fallschilderungen auf den Webseiten der rechten Partei. Deutschland diskutierte: Wie neutral muss Schule sein?
"Rassismus und Menschenverachtung sind keine legitimen Positionen"
Diese Frage hat jetzt das "Deutsche Institut für Menschenrechte" (DIMR) in einer Analyse beantwortet: "Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien?" Die Antwort von Deutschlands nationaler Menschenrechtsinstitution ist klar nein. "Lehrer_innen haben nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, für die Grundprinzipien der Grund- und Menschenrechte einzutreten", heißt es in seiner 36-seitigen Analyse, die der Jurist Hendrik Cremer verfasst hat, der Rassismus-Experte des Instituts. Sie könnten auch nicht schweigen, sondern "sind verpflichtet, Stimmen und Stimmungen im Unterricht nicht unwidersprochen zu lassen, die sich gegen die Achtung der Menschenwürde und das Verbot der Diskriminierung als zentrale grund- und menschenrechtliche Prinzipien richten." Das Neutralitätsgebot des Staates bedeute auch nicht, "rassistische oder andere menschenverachtenden Positionen als gleichberechtigte legitime politische Positionen" im Unterricht zu behandeln.
Es geht nicht nur um die AfD
Sowohl aus dem Grundgesetz als auch aus menschenrechtsrelevanten Verträgen, die Deutschland unterschrieben hat, ergäben sich "explizite staatliche Verpflichtungen zur Menschenrechtsbildung für die schulische und außerschulische Bildung", heißt es im Text. Er verweist auf die lange Geschichte dieser Verpflichtung: Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 machte es den Unterzeichnerstaaten zur Aufgabe, die staatlichen Bildungssystem an Menschenrechten auszurichten, ebenso die zwei Jahre später entstandene Europäische Menschenrechtskonvention - die beide, so der Text, ihre Entstehung wesentlich der Erfahrung der NS-Diktatur verdankten. Die Schulgesetze der Bundesländer nähmen darauf Bezug - zu Recht: "Der aus den Menschenrechten abzuleitende und rechtsverbindliche Bildungsauftrag würde leerlaufen, wenn das Gebot der Chancengleichheit der Parteien (Art. 21 GG) so interpretiert würde, dass rassistische und rechtsextreme Positionierungen von Parteien nicht als solche thematisiert werden könnten." Das Schulrecht der Länder wie die Kultusministerkonferenz machten deutlich, dass "politische Bildung nicht wertneutral" sei, schreibt Institutsdirektorin Beate Rudolf in ihrem Vorwort.
Dabei müsse es nicht zuletzt um die AfD gehen, auch wenn der Autor Cremer "einen kategorialen Unterschied zwischen der AfD und anderen in den Parlamenten vertretenen Parteien" sieht: "In der AfD sind rassistische Positionierungen Bestandteil ihres Programms, ihrer Strategie sowie von Positionierungen durch Führungspersonen und Mandatsträger_innen bis hin zu offen ausgesprochenen Drohungen, in denen sie einer gewaltsamen Machtergreifung zur Erreichung ihrer politischen Ziele das Wort reden." An ihrem Programm könne man im Unterricht beispielhaft rassistische Argumentationsmuster analysieren. Diskriminierendes und rassistisches Gedankengut sei aber nicht nur in AfD und NPD zu Hause; im Text wird das SPD-Mitglied Thilo Sarrazin genannt, einst Berliner Finanzsenator. Für die Auseinandersetzung mit problematischen Positionen von Parteien in der Schule dürfe es auch keine Rolle spielen, wie viele Stimmen sie bei Wahlen erhalte.
Zur Parteien-Neutralität an Schulen gibt es noch kaum Rechtsprechung
Das von der AfD oft bemühte Argument, Kritik an ihr bringe die Meinungsfreiheit in Gefahr, entgegnet das Institut: Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei nich das Recht, "dass die eigenen Äußerungen unwidersprochen stehen bleiben".
Der Text macht allerdings auch klar, welche Grenzen Lehrerinnen und Lehrer zu beachten haben: Wenn sie im Unterricht Rechtsextremismus oder Rassismus in politischen Parteien behandeln, dürfen sie sich nicht auf die Seite einer Partei schlagen, sie dürfen nicht Parteien unzulässig herabsetzen und müssen sich sachlich mit deren Politik beschäftigen. Sie müssen ihren Klassen die Möglichkeit geben, eigene politische Haltungen zu äußern und darüber offen diskutieren lassen. Der Text verweist auf die Prinzipien des sogenannten "Beutelsbacher Konsens" von 1976. Damals trafen sich Politikdidaktik-Fachleute - es war die Zeit des "Radikalenerlasses" von 1972, der darauf abzielte, Extremisten, vor allem linke, aus dem Staatsdienst, namentlich der Schule fernzuhalten - und einigten sich auf Grundsätze zur Vermittlung politischer Bildung. Ein wesentlicher Grundsatz war das "Überwältigungsverbot". Schülerinnen und Schüler sollten keine politische Meinung aufgedrängt bekommen, sondern zu eigenem Urteil befähigt werden.
Diese Prinzipien gälten im Wesentlichen auch für Bildungsarbeit außerhalb der Schulen, wenn Bund, Länder oder Gemeinden zivilgesellschaftliche Bündnisse, Initiativen oder Vereine fördert, die zu Rechtsextremismus und Rassismus aufklärten und Bildungsarbeit machten. In der Vergangenheit hatte es Angriffe der AfD auf lokale und bundesweite antirassistische Initiativen gegeben und Versuche, ihnen staatliche Förderung zu entziehen.
Das DIMR hatte im Frühjahr bereits einen Text zum Thema unter dem Titel "Schweigen ist nicht neutral" veröffentlicht. Er richtete sich vor allem an Schulkollegien. Die neue Analyse legt den Schwerpunkt auf die rechtlichen Aspekte und will Behörden, Ministerien und Gerichten Material zu einem Thema verschaffen, zu dem es noch "wenig rechtliche Erörterungen und keine gefestigte Rechtsprechung" gebe.