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In weiter Ferne, so nah. Diese Lithografie stammt aus dem Jahr 1900.
©  Promo

Ganz schön abgehoben: Perspektiven auf Berlin, die kein Mensch je gesehen hat

Sie zeigten Berlin aus der Luft, lange bevor der Mensch vom Boden abhob: Ein Verleger hat historische Ansichten aus der Vogelperspektive gesammelt.

Berlin ist die Stadt, die 450 Jahre ohne Plan war. Nicht, dass man zwischen den paar Hütten in den Spreesümpfen beiderseits des Mühlendamms gleich die Orientierung verloren hätte, aber ungewöhnlich ist es schon, dass da vor dem Werk des kurfürstlichen Baumeisters Memhardt, von dem 1652 der älteste bekannte Plan der Doppelstadt Berlin-Cölln veröffentlicht wurde, nichts in den Archiven zu finden ist.

Vielleicht gab es wirklich nichts, vielleicht ist es einem Stadtbrand zum Opfer gefallen, sagt Ulrich Giersch, der in seinem kleinen Atelier in einem Gewerbehof direkt an der Ringbahn in Schöneberg auf großformatige Pläne und Stadtansichten spezialisiert ist.

Jetzt hat er sich einer Spezialität gewidmet, die man im Zeitalter von Google Earth und Billigfliegerei kaum noch angemessen wertschätzt: „Berlin aus der Vogelschau“ heißt das Werk, das dreidimensionale Luftbilder aus mehreren Jahrhunderten versammelt und erklärt.

Verzerrter Blick

Die meiste Zeit ihres Daseins verbrachte die Menschheit mangels Alternativen am Boden, sodass die Vogelperspektive allein den Vögeln vorbehalten war. Mit diesem Bewusstsein wird einem die Leistung der Zeichner bewusst: Sie zeichneten Bilder aus Perspektiven, die kein Mensch je gesehen hatte. Einer der ersten war Johann Bernhard Schultz, dem 1688 ein Blick aus mehreren hundert Metern Höhe gelang. Das fiktive Auge des Betrachters befindet sich dabei nahe dem Leipziger Tor, also südwestlich der von einer gezackten Befestigungsmauer samt breitem Wassergraben umgebenen Stadt.

Die Häuser sind überwiegend zweistöckig, wobei das Schloss bereits deutlich herausragt und die Marienkirche erst recht. Die befindet sich praktisch am nordöstlichen Stadtrand. Zur besseren Orientierung hat Ulrich Giersch rechts daneben einen dicken Punkt in die Karte gesetzt, der den Standort des 280 Jahre später errichteten Fernsehturms markiert.

Schon der Gedanke daran, wie lange der kurfürstliche Ingenieur Schultz für die Tausenden Fenster der Wohnhäuser gebraucht haben mag, kann Krämpfe in der rechten Hand verursachen. Das gilt erst recht für Friedrich August Borchels „Blick auf Berlin vom Thurme der Marienkirche aus“ von 1855.

Monatelange Arbeit

Giersch vermutet, dass die ersten Luftbildner Kirchturmbesteiger und Naturtalente waren. Nicht alle zeichneten gleich detailliert, und manche bogen auch die Perspektive ein wenig zurecht – oder „überhöhten“ die Kirchtürme zwecks besseren Überblicks wie Borchel. Auf dessen Lithografie ist bereits das aufkommende Verkehrsproblem zu ahnen, das aus dem abrupten Ende der Linden vor dem Stadtschloss resultierte.

Auf dem 30 Jahre später entstandenen „Panorama der deutschen Kaiserstadt“ von Adolf Eltzner ist das Problem gelöst – durch den Abriss eines Teils des „Apothekerflügels“ vom Stadtschloss und der dichten Wohnbebauung dahinter: Das Mittelalter wurde abgeräumt zugunsten der Industrialisierung.

Der Mühlendamm um 1237. Diese Federzeichnung wurde allerdings erst 1986 von Marcus Herrenberger angefertigt.
Der Mühlendamm um 1237. Diese Federzeichnung wurde allerdings erst 1986 von Marcus Herrenberger angefertigt.
© Illustration: Marcus Herrenberger

Giersch schätzt, dass die Zeichner oft Monate beschäftigt waren mit einem solchen Luftbild. Später konnten sie in Ballons aufsteigen und Ende des 19. Jahrhunderts außerdem fotografieren. Aber das Risiko, dass Gebäude nach Vollendung ihres Werks bereits abgerissen oder doch anders als zunächst geplant errichtet worden waren, bestand weiterhin.

Eine besondere Perle in Gierschs Sammlung ist jene von Farbe und Sonnenlicht durchflutete Lithografie von 1900, die die brummende Metropole wie ein fotografisch genaues Wimmelbild erscheinen lässt. Der Zeichner schwebt etwa über dem heutigen Bundeskanzleramt, was einen exzellenten Blick etwa bis zum Alex und dem Urbanhafen ermöglicht.

Erst dahinter verliert sich das Häusermeer im Ocker der Ziegel und dem Graubraun der Industrieabgase. Wie zu den meisten anderen Panoramen auch folgen im Buch zwei Seiten, auf denen Ausschnitte vergrößert und Details beschrieben werden. So sehen auch Laien mehr.

Tiefe Einblicke

Im 20. Jahrhundert dominiert die Fotografie, die ganz andere Möglichkeiten schafft. Welche, zeigt das 360-Grad-Panorama, das Vera und Dieter Breitenborn am 1. Mai 1968 heimlich aus dem Turm der Marienkirche aufnahmen: Während sich am Ort des Palastes der Republik (dessen Bau erst fünf Jahre später begann) die Massen zur Demo versammeln, dominieren ringsum Baustellen. In einer steht der Fuß des fast fertigen Fernsehturms wie ein riesiger Saugnapf. Dank Nachbearbeitung ist das Panorama gestochen scharf.

„Berlin aus der Vogelschau – Übersichten und Einblicke in die Geschichte der Stadt“. Verlag Bien & Giersch, erhältl. für 29,80 Euro auch im TagesspiegelShop, Askanischer Pl. 3 (Mo-Fr 9-18 Uhr, shop.tagesspiegel.de)

Das gilt umso mehr für das aus 70 Dias zusammengesetzte Bild der City von 1992. „Das markiert für mich die Stunde null nach der Wiedervereinigung“, sagt Ulrich Giersch. Wie es zu Mauerzeiten aussah, hat der Karikaturist Werner Kruse alias „Robinson“ 1983 gezeigt. Sein Blick vom südlichen Luftraum her zeigt die geteilte Stadt als ein einziges Gedränge, in dem rechts unten der Müggelturm gleich neben dem Flughafen Schönefeld steht, von dem es nur ein Katzensprung zur Oberbaumbrücke ist.

Auf der anderen Seite reicht Spandau bis fast an die Gedächtniskirche, neben der ostwärts gerade noch genug Platz ist für die Siegessäule, an deren Sockel sich weiß und kalt die Mauer vorbei windet. So ergibt jede Vogelschau ihr eigenes Bild. Das mag manchmal schief sein – aber die Aussicht von oben bietet in jedem Fall tiefe Einblicke.

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