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Räumung auf dem oberen Bahnsteig im U-Bahnhof Lichtenberg: Obdachlose dürfen sich dort tagsüber nicht mehr aufhalten.
© Thilo Rückeis

Kältebahnhof Lichtenberg: Obdachlose müssen tagsüber raus

Über die Zustände am Kältebahnhof Lichtenberg gab es viele Klagen. Ab sofort soll er nur noch nachts für Obdachlose zur Verfügung stehen.

Ein Obdachloser haut einem anderen einen Pappkarton aus der Hand. "Brauchst du den Scheiß wirklich noch?", schreit er ihn an. Dann hilft er seinem Kumpel, Sachen in einen Einkaufswagen zu packen. Am Freitagmorgen befinden sich nur noch sechs Obdachlose im Kältebahnhof Lichtenberg. Rund 20 BVG-Sicherheitskräfte warten geduldig.

Ein Mann kniet mit einem Bier auf dem Boden, ein anderer schreit rum. "Draußen gibt es Kaffee", versucht ein Streetworker sie zum Gehen zu bewegen. Dort, vor dem Bahnhofs-Eingang, haben einige Obdachlose bereits ihre neuen Tageslager aufgeschlagen. Denn ab morgen soll es strenger zugehen am U-Bahnhof Lichtenberg, der in den kalten Tagen für Obdachlose geöffnet wurde. Sozialarbeiter von Karuna e. V. sind vor Ort – besonders nachts auch Sicherheitspersonal.

Heute haben die Karuna-Sozialarbeiter die Obdachlosen bereits um 8 Uhr geweckt und rausgebracht – damit bei Eintreffen der BVG-Sicherheitskräfte alle weg sind und die Situation nicht eskalieren kann. Die Obdachlosen haben ihre Sachen mitgenommen, doch vieles liegt noch rum. Das wird eingesammelt und entsorgt.

Die Saison der Kältehilfe neigt sich dem Ende zu. Nun, wo es bereits wärmer ist, soll der Bahnhof tagsüber wieder frei sein für die Passanten. Die Beschwerden über Gestank, Aggression und Müll hatten sich in den vergangenen Wochen bei der Stadt gesammelt, wie Sozialarbeiter Lutz Müller-Bohlen erzählt, der fast täglich vor Ort ist.

Anwohner berichten von Streitigkeiten zwischen den Obdachlosen, Handgreiflichkeiten, lautes Gebrüll – den Kindern würde das Angst machen. Und gelegentlich würde jemand in den Fahrstuhl urinieren. Die Toiletten wurden draußen aufgestellt, was eigentlich auch funktioniere, meint Müller-Bohlen.

Es gab viele Beschwerden - aber auch Solidarität

"Am Samstag werden wir unsere Gäste hier frühzeitig wecken", sagt Jörg Richert, Vorstandsvorsitzender der Karuna Sozialgenossenschaft. Ab 22 Uhr können die Obdachlosen dann bis um 8 Uhr den Bahnhof nutzen – noch bis zum 30. April. Ab dem 1. Mai ist der Bahnhof Lichtenberg dann, wie viele Einrichtungen der "Kältehilfe", kein Übernachtungsort mehr. Eigentlich war der Bahnhof Lichtenberg auch nicht als Aufenthaltsort für den Tag vorgesehen. Eigentlich wollte die BVG hier einmal pro Tag saubermachen, die Obdachlosen sollten nur nachts hier sein.

In der Praxis funktionierte das nicht, Bahnhofs-Nutzer beschwerten sich, die Obdachlosen würden hier wohnen. Die BVG gestattete den Tagesaufenthalt auch, doch zuletzt war es zu Streit zwischen BVG und Karuna bezüglich der Nutzung gekommen. Im Januar hatten die Streetworker Absperrband verwendet, um Parzellen für die Obdachlosen einzurichten. Der BVG gefiel das gar nicht. Das sei aus brandtechnischen Gründen nicht möglich. Eine Sprecherin beklagte im Januar, die Streetworker würden gelegentlich so tun, als würde ihnen der Bahnhof gehören.

Ob es nun gelingt, die Obdachlosen morgens um 8 Uhr rauszubekommen? "Das werden wir sehen", meint Sozialarbeiter Müller-Bohlen. Am heutigen Freitag habe es gut funktioniert. Karuna hatte aber zunächst eine Verlängerung auf 10 Uhr genehmigt bekommen.

Streetworker schlägt vor, dass Obdachlose in Kirchen übernachten

Neben der Kritik gibt es auch Solidarität durch Anwohner Lichtenbergs. Eine Schulklasse möchte sich bald mit den obdachlosen Menschen unterhalten. Eine Frau verteilt fast jeden Abend Kaffee und Obst, eine kleine Gruppe kommt mehrfach die Woche, um warmes Essen zu bringen, das im gegenüberliegenden Nachtcafé ausgegeben wird. Dieses Nachtcafé kann bereits tagsüber genutzt werden. Die Öffnungszeiten wurden angepasst.

Der Humanistische Verband betreibt wie bisher von 8 bis 17 Uhr den Tagestreff mit Suppenküche, Kleiderkammer, Duschmöglichkeiten und dem Angebot ärztlicher Versorgung. Zwischen 18 und 6 Uhr überlässt er das komplette Erdgeschoss mit Speisesaal und Toiletten den Sozialarbeitern von Karuna und den Obdachlosen. In den drei Stunden Schließzeit werden die Räume gereinigt. 30 Personen passen hier rein.

Die Frage ist, wo die Obdachlosen tagsüber bleiben sollen und ob es den Kältebahnhof auch nächstes Jahr hier geben wird. Richert von Karuna meint, die Obdachlosen würden die großen Notunterkünfte immer weniger nutzen. Nicht nur in Berlin, sondern auch in Paris und anderen großen Städten sei das zu beobachten. 

Er schlägt vor, dass sich die Kirchen der Stadt im Winter öffnen – wie es in New York der Fall sei. "Vielleicht gelingt uns das bereits in der kommenden Periode der Kältehilfe mit einer Kombination von Bahnhof und Kirche?" Der Bahnhof sei als Ort des Ankommens wichtig, übernachten aber könnte man in einer Kirche. Dann könne der Bahnhof nachts gesäubert werden.

Auch Hendrikje Klein, Abgeordnete der Linken aus Lichtenberg, findet den Bahnhof mit seinen Zwischenebenen eigentlich ganz gut geeignet. Es sei ja keine Lösung, die Obdachlosen aus dem Stadtbild zu entfernen. "Begegnung macht auch viel möglich", sagt Klein. Zudem könne es eine Idee sein, die Vorräume von öffentlichen Schwimmbädern in der Kältezeit zu öffnen. Da gibt es Toiletten und Duschen – aber auch hier müssten die Obdachlosen früh raus wegen des Betriebs.

Streit um die Personalie André Hoek

Die restlichen Obdachlosen am Kältebahnhof haben es unterdessen immer noch nicht geschafft, diesen zu verlassen. Ein BVG-Mitarbeiter faltet gekonnt einen Schlafsack zusammen, letzte Pfandflaschen werden eingesammelt. Viel ist liegengeblieben: Decken, Schuhe, Isomatten, Jacken. "Wir haben neue Schlafsäcke für die Leute", meint Sozialarbeiter Müller-Bohlen. Was hier liegenbleibe, sei eh nicht mehr zu gebrauchen, stinke oder sei nass. Dass das hier alles menschenunwürdig sei, darüber bräuchte man gar nicht zu diskutieren. Er ist froh, dass die heutige Räumung bisher ohne Gewalt vonstattenging.

Die Obdachlosen hätten sich heute Morgen gegenseitig geholfen, die Habseligkeiten zu packen und aufzustehen. Man werde sehen, wie es morgen läuft. Ein Obdachloser, der sein Lager vor dem Bahnhof aufgebaut hat, meint, er schaffe das mit dem Aufstehen schon. Die Schwierigkeit liege darin, jeden Tag die ganzen Sachen raus und wieder rein zu schleppen.

Einer, der eigentlich das Aushängeschild dieses Kältebahnhofs war, hat ihn schon verlassen: Der ehemalige Obdachlose André Hoek war als Sozialarbeiter bei Karuna e.G. eingestellt worden. Vor Kurzem wurde er, noch in der Probezeit, entlassen. Es soll immer wieder zu Auseinandersetzungen mit Obdachlosen und dem Sicherheitspersonal gekommen sein. Hoek bestreitet die Vorwürfe und hat nun wieder Hartz IV beantragt.

"Gewalt in welcher Form und gegen wen auch immer ist unakzeptabel und kann von uns nicht hingenommen werden", sagte Richert vom Karuna-Vorstand zum Fall Hoek. Man achte Hoeks Engagement für obdachlose Menschen und würde sich freuen, "ihn außerhalb unserer Organisation unterstützen zu können, damit er seine Perspektive als ehemals selbst Betroffener einbringen kann".

Berlin will in Zukunft vermehrt auf ehemalige Obdachlose als Streetworker setzten. Diese könnten beispielsweise als Lotsen in der Stadt unterwegs sein und Obdachlose ansprechen. So der Plan von Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke). "Ex-Obdachlose sehen Notfälle besser als studierte Sozialarbeiter", sagt der entlassene Hoek. "Es gibt Dinge, die können an keiner Hochschule erlernt werden, die kennst du nur, wenn du selbst mal auf der Straße gelebt hast."

Weil es Wohnraum entziehe, steht ein Projekt für obdachlose Frauen in Mitte auf der Kippe. Die gemeinnützigen Betreiber sind entsetzt. Lesen Sie hier mehr.

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