Der Ablauf der Wende: Nur einmal durchs Brandenburger Tor
Der Historiker Hans-Hermann Hertles hatte 1996 eine spannende "Chronik des Mauerfalls" vorgelegt. Jetzt wurde das Buch aktualisiert und erweitert.
Es gibt Geschichten, die bleiben spannend, wie oft man sie auch erzählt und obgleich das Ende seit Langem bekannt ist. Seit 30 Jahren im vorliegenden Fall.
Ganz recht, der Mauerfall. Wieder und wieder wurde er beschrieben, analysiert und wird gerade jetzt, knapp einen Monat vor dem Jubiläum, auch in dieser Zeitung in vielen Texten rekapituliert. Zeitzeugen, Journalisten, Wissenschaftler melden sich zu Wort, und gelegentlich gelangen dabei auch Bücher noch einmal auf den Markt, die schon vor Jahrzehnten Furore machten und heute als Standardwerke gelten.
Ein solches Buch ist die erstmals 1996 erschienene „Chronik des Mauerfalls“, vorgelegt von Hans-Hermann Hertle, Historiker am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung. Es ist ein besonders gründlich recherchiertes Werk, für das der Autor zahllose Dokumente ausgewertet und Zeitzeugen befragt hat, von ehemaligen SED-Führern über Mitglieder der Grenztruppen bis hin zu sowjetischen Diplomaten. Bis 2009 gab es allein zwölf Auflagen mit mehrfachen kleineren Ergänzungen, und jetzt liegt dieser Rückblick auf den November 1989 erneut vor, in einer aktualisierten und erweiterten Ausgabe, dazu unter neuem Titel, entliehen der legendären Pressekonferenz von Günter Schabowski: „Sofort, unverzüglich“.
Hertle beschreibt erst die Erosionserscheinungen in der DDR, die im Verlauf des Jahres 1989 immer deutlicher wurden, rekapituliert die Herbstrevolution, die Massenproteste, den Sturz Erich Honeckers, die letzten Tage vor dem 9. November. Den umfangreichsten Teil nimmt der 9. November selbst ein, an dessen Vormittag noch niemand in der DDR ahnen konnte, dass am Abend alles zu Ende sein würde. Akribisch hat Hertle dabei ein Wortlautprotokoll der entscheidenden Phase der Schabowski-Pressekonferenz erstellt und die Fragen den Journalisten zugeordnet, die sie gestellt hatten. Mit der gleichen Präzision rekonstruiert er den Mauerdurchbruch, die Ratlosigkeit der Grenzer, den durch die aktuellen Medienberichte erst ausgelösten Massenansturm auf die vermeintlich schon offenen, sich dadurch tatsächlich öffnenden Grenzübergänge an der Bornholmer Straße, der Sonnenallee, der Invalidenstraße, am Checkpoint Charlie und am Brandenburger Tor. Selbst kleinste, nur sekundenkurze Momente werden registriert, für den Lauf der Weltgeschichte belanglos, doch die besondere Stimmung dieser Nacht präzise charakterisierend. So die Erinnerung eines noch immer fassungslos wirkenden Stabsoffiziers des Grenzkommandos, eingesetzt auf dem Pariser Platz: „Doch der Versuch der Leute, nur einmal das Brandenburger Tor anzufassen, nur einmal durchzugehen, war nicht zu bremsen (...) Ich habe das nicht verstanden, ich habe es nicht begriffen (...) Ich habe selbst eine Frau im Rollstuhl einmal durch das Tor geschoben und dann wieder zurückgebracht.“
Hertles Chronik sei „ein aufregendes Buch, erzählte Zeitgeschichte, die sich – obwohl Ergebnis seriöser Forschung – zuweilen liest wie ein absurdes Stück“, hieß es 1996 im Tagesspiegel. Dem ist nichts hinzuzufügen.