Zu mildes Urteil?: Nur 200 Euro Geldstrafe für ein Menschenleben
Ein 23-Jähriger fährt einen Jungen tot - und kommt milde davon. Das erregt viele Gemüter. Ein Erklärungsversuch.
Ein Kind rennt los, über die Straße, ein Auto kommt, es ist zu schnell, erfasst den Jungen - der Vierjährige stirbt im Krankenhaus. Es ist ein Alptraum für alle - den Jungen, seine Mutter, aber auch für den Unfallfahrer. Er wurde jetzt verurteilt. Ein 23-jähriger Mann, Architekturstudent, 8. Semester, kein Bafög mehr, daher der niedrige Tagessatz: 40 Tagessätze zu je fünf Euro, das ist die Strafe.
200 Euro für ein Menschenleben, ist das nicht allzu mild? Ist es nicht skandalös? Und ist es nicht fast ein Freibrief in einer Stadt voller Raser, die offenbar ja nichts zu befürchten haben, selbst wenn sie ein Kind totfahren? Eigentlich stehen bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe auf fahrlässige Tötung. Wie kann das sein?
Entscheidend ist bei Fahrlässigkeit der Pflichtverstoß. Hätte sich der Unfall bei regelkonformem Verhalten vermeiden lassen? Laut Gutachter nicht. Erlaubt waren auf der Busspur 50 km/h, der Unfallfahrer fuhr schneller. "Auch bei Tempo 50 wäre der Unfall nicht vermeidbar gewesen", hatte der Gutachter jedoch festgestellt.
Das Gericht sah hier trotzdem insoweit einen Pflichtverstoß, als der Fahrer seine Geschwindigkeit nicht angepasst hatte. Das verlangt die Straßenverkehrsordnung in Paragraph drei: "Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird. Die Geschwindigkeit ist (...) Verkehrs-, Sicht- und Wetterverhältnissen anzupassen." Hier war Stau, der Angeklagte hätte langsamer fahren sollen.
Bei Tempo 30 hätte der Unfall laut Gericht vermieden werden können. Der Fahrer hätte mit Passanten rechnen müssen. Das hatte auch die Anklage so gesehen: "Bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte der Angeschuldigte erkennen können und müssen, dass ein Überholen auf der rechten Fahrspur zum einen generell nur mit besonderer Vorsicht und mäßiger Geschwindigkeit erfolgen darf, und zum anderen, dass Fußgänger regelmäßig Stausituationen nutzen, um die Fahrbahn - auch verbotswidrig - zu überqueren, insbesondere wenn, wie hier, ein Fußgängerüberweg von den Fahrzeugen freigehalten wurde", heißt es in der Anklageschrift.
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Aufgabe des Gerichts ist es, sich unter dem Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden. Und ja, dieser hat Fehler gemacht. Er fuhr am 19. Oktober 2017 auf der Romain-Rolland-Straße Richtung Pankow, der Verkehr staute sich, die Busspur war frei. Da der Angeklagte nach 70 bis 100 Metern nach rechts abbiegen wollte, entschloss er sich, das kurze Stück auf der Busspur zu fahren. Er scherte aus, beschleunigte, er war zu schnell, da kam von links das Kind angerannt, er bremste und wich nach rechts aus, doch sein Außenspiegel erfasste das Kind. Eine Dashcam zeichnete den Unfall auf. Fehler zu machen, reicht aber nicht. Der Fehler muss auch kausal für Unfall und Tod des Jungen sein.
Der Junge lief frei und rannte einfach los
Der Junge und seine Mutter standen auf der Mittelinsel des Fußgängerübergangs. Das Gericht hörte viele Zeugen. Aus den Aussagen ergab sich: Die Mutter hatte den Jungen nicht an der Hand. Sie zog mit einer Hand einen Einkaufstrolley, mit der anderen trug sie eine Tüte. Der Junge hielt sich nicht am Trolley fest, sondern lief frei. "Das Kind kann nichts dafür, es lief bei Rot auf die Straße – da muss man auch der Mutter einen Vorwurf machen", so das Gericht. Hier liege "ein Fehlverhalten des Erziehungsberechtigten" vor. Die Schuld des Fahrers wurde als gering bewertet. Die Mutter wurde im Prozess nicht gehört; sie wohnt dem Vernehmen nach im Ausland.
Der Fahrer ist Deutscher, gebürtig aus dem Kosovo. Er hat keine Vorstrafen und auch keine Verkehrsverstöße begangen, er leidet psychisch stark unter der Tat. Aus Sicht des Gerichts ist der Mann auch dadurch gestraft. Auch vor Gericht weinte er immer wieder. In den zwei Wochen, in denen der Junge bis zu seinem Tod im Krankenhaus lag, habe er jeden Tag für ihn gebetet, sagte der Angeklagte. Zeugen hatten zudem ausgesagt, er sei nach dem Unfall sofort ausgestiegen und zu dem Kind gerannt, um zu helfen, er selbst habe am ganzen Leib gezittert. Das zeigt auch das Video.
Nicht zu unterschätzen ist auch der Zeitfaktor. Der Angeklagte lebt seit über anderthalb Jahren mit dem Tatvorwurf und fast so lange mit dem bevorstehenden Prozess, bis zu dem es lange gedauert hat. Die Staatsanwaltschaft hatte 70 Tagessätze gefordert. Da ein Tagessatz einem Tag Freiheitsstrafe entspricht und man erst oberhalb von 90 Tagessätzen als vorbestraft gilt, bedeutet das, dass selbst die Anklagebehörde keinen Schuldspruch als angemessen ansah, der zu einer Vorstrafe geführt hätte.
Im Gericht in Moabit wurde der Fall unter Richtern diskutiert. "Der Unfall wäre genauso passiert, wenn ein Taxi mit 50 km/h an der Stelle des Fahrers gewesen wäre", sagt ein Verkehrsrichter. "Ich hätte den Taxifahrer dann mangels Pflichtverstoßes freigesprochen."