Chebli kandidiert gegen Müller: Nimmt eine Frau sich Macht, legen Männer das als parteischädigend aus
Weil Kühnert und Müller sich nicht einigen konnten, soll Chebli weichen. Das sagt viel über die Glaubwürdigkeit der SPD beim Thema Gleichberechtigung aus. Ein Kommentar.
Eine Berliner Staatssekretärin, Erfahrungen in der Bundespolitik, Flüchtlingskind mit vorbildhafter Aufstiegsgeschichte, bewirbt sich in ihrem Heimatverband um die Kandidatur für ein Bundestagsmandat. Ihre Partei, jedenfalls der vernehmliche Teil, also vor allem der Kreis der Funktionäre, gerät in helle Aufregung, manche zeigen sich gar empört.
Der Vorwurf: Die Kandidatur schade der Partei. Kritisiert wird weder die politische Fähigkeit der Frau noch die Ausrichtung ihrer Politik, nein: Kritisiert wird, dass ihre Kandidatur nicht das Ergebnis einer Vorabsprache ist, sondern ihrem alleinigen Willen entspricht – und dass sie gegen den bisherigen Regierenden Bürgermeister antritt, der in der Senatskanzlei ihr Chef ist. „Demütigend“ sei das für den Mann, heißt es. So ergeht es gerade Sawsan Chebli, SPD.
Kevin Kühnert, führendes Mitglied des Bundesvorstands der SPD und Vorsitzender der Jusos, erlebt denselben Vorgang ganz anders. Als Kühnert erklärte, in seinem Heimatverband für ein Bundestagsmandat zu kandidieren, wurde das wohlwollend bis begeistert kommentiert.
Und das, obwohl der Regierende Bürgermeister zuvor zu erkennen gab, dass er im Fall des Falles gerne selbst dort antreten würde – es ist auch sein Heimatverband. Niemand warf Kühnert vor, den von ihm abservierten Mann zu demütigen, obwohl der sich trollte und einen Wahlbezirk weiter zog – dorthin, wo auch seine Staatssekretärin kandidieren wollte, was ihm bekannt war.
An Kühnerts Vorgehen ist nichts falsch: Einer will was werden, sagt es und tut, was er dafür als notwendig erachtet, und das zu dem Zeitpunkt, der ihm selbst als der richtige erscheint. Machiavelli wird eben auch unter Sozialdemokraten nicht für eine weichgekochte Nudelsorte gehalten. Macht muss man sich nehmen, das wissen sie in der SPD.
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In kleinen Zirkeln abgesprochen
Wenn jedoch eine Frau das macht, legen ihr vor allem Männer das als parteischädigendes Verhalten aus. Und was noch schwerer wiegt: Die Frauen schweigen dazu. Nur unter der Hand sagen sie, was sie davon halten: „frustrierend“, „enttäuschend“, „falsch“. Zwei Männer können sich nicht einigen, zu weichen hat die Frau.
Doch selbst wer Sawsan Chebli die politische Eignung abspricht und dafür Gründe benennt, könnte die Art der Kandidatur und auch die Konkurrenz begrüßen. It’s democracy, stupid – ein Slogan, hinter dem sich die Sozialdemokratie sonst gerne versammelt.
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Wer aber der Überzeugung ist, Bundestagskandidaturen gehören wie eh und je in kleinen Zirkeln und Bünden vorbesprochen, ausgehandelt und durchgezogen, müsste erkennen, dass nicht Chebli für die als Crash empfundene Kandidatur verantwortlich ist, sondern ihr Chef: Michael Müller, als Regierender Bürgermeister und Landesvorsitzender formal der mächtigste Sozialdemokrat in Berlin, hat es versäumt, die Dinge zu ordnen.
Zuletzt kokettierte er sogar
Er ließ alles laufen, obwohl die Konfrontation sowohl mit Kühnert als auch mit Chebli absehbar, weil angekündigt war. Stattdessen tat er, was er immer tut: abwarten und zaudern. Zuletzt kokettierte Müller sogar noch mit dem Gedanken, er könne ja vielleicht doch noch weitermachen als Regierender Bürgermeister. Ihm war die Freude über jede Frage dazu anzusehen. Er genoss die Unsicherheit, die er selbst ausgelöst hatte. Die Folgen davon gehen auf seinen Deckel.
„Es ist nach 100 Jahren Frauenwahlrecht Zeit zu schauen, wo wir mit der politischen Teilhabe von Frauen stehen, und den nächsten mutigen Schritt zu wagen: ein Paritégesetz“, forderte Gleichstellungssenatorin Dilek Kalayci im Tagesspiegel mit Blick auf die Männermehrheit in den Parlamenten.
Ihre Partei, die SPD, drängt auf Veränderung – aber bekommt sie selbst nicht hin. In den zwölf Berliner Wahlkreisen dominieren die Männer. Und bei der Frage, wer die Landesliste anführt, werden nur zwei Namen genannt: Müller oder Kühnert.
Dass auch eine Frau auf Platz eins kandidieren könnte, kommt offenbar niemandem in den Sinn.