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Landeskirchenmusikdirektor Gunter Kennel.
© Alfredo Mena/Promo

Corona-Lockerungen für Berliner Chöre gefordert: „Nicht mal Happy Birthday ist erlaubt“

Der evangelische Landeskirchenmusikdirektor findet den Gesundheitsschutz beim Musizieren überzogen. Andere Bundesländer agierten pragmatischer. Ein Interview.

Herr Kennel, die Evangelische Landeskirche wirft dem Berliner Senat vor, das Recht der Gläubigen auf freie Religionsausübung fortdauernd einzuschränken. Ist das nicht etwas überzogen? Verboten wurde doch lediglich das gemeinsame Singen in geschlossenen Räumen.
Aber das gemeinsame Singen im Gottesdienst sowie in und mit der Gemeinde ist ein ganz wesentlicher Bestandteil der Religionsausübung. Die Gemeinde ist eben nicht nur das Publikum, sondern sie gestaltet mit. Und das auch durch den Gesang.

Aber natürlich trifft die neue SARS-CoV-2-Infektionsschutzverordnung des Berliner Senats auch alle weltlichen Chöre. Und überhaupt alle Berliner, die gerne gemeinsam singen. Genau genommen darf man ja nicht einmal in der eigenen Wohnung für ein Familienmitglied „Happy Birthday“ anstimmen. Oder man riskiert ein Bußgeld in Höhe von bis zu 25.000 Euro.

Der Berliner Chorverband hat unmittelbar nach Bekanntwerden der besagten Verordnung in einem Offenen Brief gegen das Verbot protestiert und dem Senat „,Auslöschen von Kulturgut“ vorgeworfen. Gab es darauf keine Reaktion von den Verantwortlichen?
Doch. Kultursenator Klaus Lederer hat etwas flapsig vorgeschlagen, einfach mal ein großes Singefest auf dem Tempelhofer Feld durchzuführen. Inzwischen hat er aber gemerkt, wie ernst das Thema für die Betroffenen ist und hat Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Ärgern Sie sich besonders darüber, dass andere Länder nicht so rigide vorgehen?
Das freut uns eher. Vor allem für die Menschen in den betreffenden Bundesländern. Das gilt übrigens auch für unsere Kirche, denn ihr Gebiet erstreckt sich auch auf Brandenburg sowie Teile von Sachsen und Sachsen-Anhalt. Dort darf man inzwischen unter Einhaltung bestimmter Auflagen auch wieder in geschlossenen Räumen singen. In Berlin aber nicht. Hier ärgert uns besonders, dass man in Bereichen, wo es zu einem ähnlichen oder sogar höheren Aerosol-Ausstoß kommt, weniger streng ist.

Wo wäre das beispielsweise?
Ich denke da etwa an die U-Bahn, wo oft viel und laut geredet wird. Oder an Fitness-Studios und andere Sportstätten, wo intensiv ein- und ausgeatmet wird. Oder nehmen Sie die Situation in Zügen, Schiffen oder Flugzeugen, wo die Menschen sehr dicht zusammensitzen.

Abgesehen davon halten sich unsere Chöre und Gemeinden peinlich genau an die allgemeinen sowie an unsere eigenen Vorgaben.

Die Evangelische Landeskirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) hat auch Empfehlungen erlassen?
Natürlich. Wir empfehlen beispielsweise für die Proben nicht nur viele Pausen zum Lüften, sondern sogar drei Meter statt eineinhalb Meter Abstand. Und in Singerichtung sollte er sogar sechs Meter betragen.

Uns ist durchaus bewusst, dass wir es oft mit Menschen zu tun haben, die Risikogruppen angehören. Deshalb negieren wir natürlich nicht die reale Gefahr, auch wenn neuere Studien diese nicht mehr ganz so dramatisch einschätzen wie noch vor ein paar Wochen.

Sie meinen sicher die Risikoeinschätzungen im Bereich Musik aus München und Freiburg. Aber auch die geben keine Entwarnung.
Ja, aber sie sagen auch, dass es bei Einhaltung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen kein erhöhtes Risiko zu anderen Tätigkeiten gibt. In der Studie, die unter anderem vom Universitätsklinikum Freiburg und der dortigen Hochschule für Musik erarbeitet wurde, heißt es beispielsweise: „Gemeindegesang erscheint bei Einhalten der Abstandsregel von zwei Metern und Tragen von Mund-Nasen-Schutz möglich, da davon ausgegangen werden kann, dass durch das Singen gegenüber dem Sprechen keine erhöhte Infektionsgefahr besteht. Zudem finden Gottesdienste zumeist in großen bis sehr großen Räumen statt.“

Außerdem wird ja niemand gezwungen, zur Chorprobe oder in den Gottesdienst zu gehen. Das kann jeder für sich selbst entscheiden.

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© imago/Horst Rudel

Was ist so schlimm daran, zumindest jetzt in den Sommermonaten draußen im Freien zu singen?
Gar nichts. Die meisten unserer Gemeinden praktizieren das ja seit Wochen. Aber bestimmte Auftritte oder Projekte muss man eben auch von langer Hand planen. Da benötigt man einen bestimmen Vorlauf und auch eine Sicherheit.

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Und ehrlich gesagt: Das Singen im Freien kann nur eine Überbrückung sein. Für das besondere Chor-Erlebnis braucht man einfach einen Raum, der Resonanz gibt und in dem sich der Klang gut mischt.

Wie geht es jetzt weiter? Das Konsistorium der Landeskirche hat in seinem Protestbrief an den Senat auch rechtliche Schritte nicht ausgeschlossen.
Ich hoffe immer noch, dass es eine Verständigung beziehungsweise andere Möglichkeiten gibt, den notwendigen Gesundheitsschutz beim Musizieren nicht so überzogen, sondern angemessener vorzugeben und umzusetzen.

Zumal Bildungssenatorin Sandra Scheeres bei einem Abstand von zwei Metern das Chorsingen für Schülerinnen und Schüler in geschlossenen Räumen erlaubt hat. Insofern ist der Senat in seinen Vorgaben im Moment in sich nicht konsistent. Aber der Kultursenator hat sich ja jetzt zu einem Expertengespräch bereit erklärt.

Wann soll das stattfinden?
Noch im Juli. Ich bin optimistisch, dass wir ihn mit unseren Argumenten überzeugen können und er sich dann im Senat für unser Anliegen stark machen und durchsetzen kann.

Es geht ja nicht nur um eine kulturelle oder religiöse Nische oder einen nicht zu unterschätzenden wirtschaftlichen Faktor. Singen und Musizieren ist einfach unverzichtbar für die seelische Balance einer Gesellschaft.

Landeskirchenmusikdirektor Gunter Kennel hat an der Passions- und der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg gearbeitet. Er lehrt an der Humboldt-Universität und an der Universität der Künste.

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