Politisches Kabarett in Berlin: Neues Programm der "Distel": Freie Republik Dorotheanien
"Zwei Zimmer, Küche: Staat" – das neue Programm der "Distel" überzeugt. Eine Kritik.
Gutes Kabarett hat immer einen Hauch von Umsturz. Deshalb hassen Diktatoren das politische Kabarett oder versuchen es zu domestizieren. Als die SED 1953 das Murren in der Bevölkerung nicht mehr überhören konnte, verordnete sie die Gründung der Distel. Der Auftrag: Verbreitung des sozialistischen Humors, Detailkritik erlaubt, Rütteln am System verboten. Gerieten die Aufsicht führenden Genossen in Gewissensnöte über die aufmüpfigen Schauspieler, kippten sie schon mal das ganze Programm bei der Generalprobe. So etwas sprach sich natürlich herum in der Hauptstadt der DDR und schweißte ein zur permanenten Renitenz neigendes Darstellerteam genauso zusammen wie die Besucher.
So viel Vorrede ist notwendig, um die Distel von heute zu verstehen. Da ist nämlich auf der Bühne in der Friedrichstraße 101 ein doppeltes Wunder geschehen. Fast 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat sich das Ensemble immer noch nicht von der Demokratie in die Lethargie korrumpieren lassen, sondern ist subversiv und bissig wie einst. Das liegt auch daran, dass einige der wichtigsten Darsteller genauso dabeigeblieben sind wie viele Frauen und Männer im natürlich deutlich älter gewordenen Publikum.
Die Freie Republik Dorotheanien
Das ist eine verschworene Gemeinschaft, die kichernd und verschwörerisch Erinnerungen teilt. Der Tourist, den die Reiseregie in die Distel geschickt hat, erlebt also, wenn er oder sie Sensoren dafür hat, eine Mehrfachpremiere: Ein neues Programm, in dem Politik im politischen Raum gemacht und gespielt wird, und in dem das Publikum, bewusst oder unbewusst, selber Teil der Inszenierung ist.
Der Plot des neuen Programms ist genauso durchgeknallt wie einladend zu jeder Menge Wortwitz: Bald-Rentnerin Margie lebt mit ihrem nichtsnutzigen 44-jährigen Sohn in der Berliner Dorotheenstraße unter prekären Verhältnissen und hält sich finanziell nur dank eines Untermieters über Wasser, der dazu noch ein Hochstapler ist. Als Margie ihren Rentenbescheid bekommt, ist klar, dass aus diesem Leben nichts mehr wird, wenn sich nicht grundlegend etwas ändert. Also beschließt das Trio die Gründung eines eigenen Staates. Die „Freie Republik Dorotheanien“ wird für Steuerbetrüger genauso interessant wie für Kriminelle, die einen Diplomatenpass brauchen, und am Schluss mischt sich auch noch Angela Merkel in die Geschicke Dorotheaniens ein. Deren Kanzlerin Margie findet genauso wie ihr Sohn als Verteidigungs- und der Untermieter als Außenminister zunehmend Spaß an der Geschichte.
Ganz zum Ende wird der ohnedies turbulente Szenenwechsel so chaotisch, dass man kurz meint, die Regie probiere bei der Premiere noch mehrere Schlussszenen aus. Aber durch die zwei Stunden reißen Dagmar Jaeger als Kanzlerin, Michael Nitzel als Außenminister und Rüdiger Rudolph als missratener Sohn und genussfreudiger Verteidigungsminister den Saal mit. Nitzel, seit 1983 im Distel-Team, und Jaeger, seit 1989 dabei, sind einfach brillant, er eine umwerfende, sarkastische Rampensau, sie bei aller Komik eine großartige Diseuse. Ohne die Musiker, Matthias Felix Lauschus und Fred Symann, wäre das Geschehen nicht das komödiantische Gesamtkunstwerk, das dem Besucher nebenbei drei grundlegende Gestaltungsprinzipien der Politik vermittelt:
1. Da müssen wir noch mal ran,
2. Das hat mein Vorgänger versaut,
3. Das wird aber nicht billig.
Mein Ratschlag: Unbedingt hingehen.
Weiteres zu Tickets und Terminen: www.distel-berlin.de