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Polizei im Einsatz (Symbolbild).
© dpa
Update

Politische Gewalt in Berlin-Neukölln eskaliert: Nazi-Experte soll Brandanschlag auf AfD-Politiker verübt haben

Das Auto eines AfD-Politikers brennt. Unter Verdacht steht ein ehemaliger Mitarbeiter der Amadeu-Antonio-Stiftung.

In Berlin-Neukölln eskalieren die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen links und rechts. In der Nacht zu Donnerstag haben drei Männer einen Brandanschlag auf den Privatwagen eines AfD-Politikers verübt. Eine Zivilstreife der Polizei konnte einen der verdächtigen Männer fassen. Bei dem 39-Jährigen handelt es sich nach Tagesspiegel-Informationen um einen Rechtsextremismus-Experten und Autor.

Der Mann, der in den nächsten Tagen 40 Jahre alt wird, war Mitarbeiter der Amadeu-Antonio-Stiftung und der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). Die Stiftung legt Wert darauf, dass der Verdächtige nur auf Honorarbasis für sie tätig gewesen sei. Nach Angaben der Stiftung war er dort bis 2016 beschäftigt. Stiftungs-Geschäftsführer Timo Reinfrank distanzierte sich am Donnerstagabend von seinem ehemaligen Mitarbeiter: „Wir verurteilen diese Straftat auf Schärfste, wie wir auch alle anderen Formen von politischer Gewalt verurteilen. Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung, egal aus welcher Richtung sie kommt.“

Der Verdächtige hat zudem Beiträge für die Bundeszentrale für politische Bildung verfasst. Nach Angaben der Bundeszentrale aus dem Jahr 2014 war er für Projekte des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) tätig und hat zu dieser Zeit für die MBR gearbeitet. Die Beratungsstelle erklärte am Donnerstag auf Anfrage, dass der Mann "seit geraumer Zeit kein Mitarbeiter mehr" sei.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) hat den Brandanschlag auf das Auto eines Neuköllner AfD-Bezirkspolitikers „zutiefst verurteilt“. Dem Tagesspiegel sagte Geisel zu der in der Nacht zu Donnerstag verübten Tat eines mutmaßlichen linken Aktivisten: „Unabhängig davon, welche politische Linie man verfolgt: Politische Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen.“

AfD-Politiker steht selbst wegen Brandanschlägen unter Verdacht

Zivilfahndern waren am Mittwoch gegen 23.30 Uhr in Neukölln drei Männer aufgefallen, die auf Fahrrädern unterwegs waren und einen Wohnblock umrundet hatten. Auf einem Innenhof sollen sie nach Angaben der Polizei an einem Pkw stehen geblieben sein. Aus dem Trio soll sich ein Mann an dem Auto gebückt haben, alle drei fuhren dann mit den Fahrräder eilig fort. Die Fahnder verfolgten das Trio und konnten einen Mann stellen.

Zwischenzeitlich wurde die Feuerwehr alarmiert, um das in Flammen stehende Auto zu löschen. Die Fahnder brachten den 39-Jährigen zu einer Gefangenensammelstelle, dort wurde er dem polizeilichen Staatsschutz übergeben. Am Donnerstagnachmittag wurde der Mann wieder freigelassen. Er ist nach Angaben der Polizei weiter tatverdächtig. Die Ermittlungen dauern an. Die Anwältin des Mannes sagte dem Tagesspiegel: "Es besteht kein konkreter Tatverdacht." Sie verwies darauf, dass die Staatsanwaltschaft keinen Haftbefehl beantragt habe.

Das Anschlagsopfer - ein Politiker aus dem Vorstand des AfD-Bezirksverbands Neukölln, steht ebenso im Visier der Ermittler. Der AfD-Politiker Tilo P. ist einer von zwei Verdächtigen in einer Serie von Brandanschlägen gegen Politiker und Anti-Rechts-Initiativen in Neukölln. Er steht im Verdacht, 2018 an mindestens einer Brandstiftung beteiligt gewesen zu sein. Auch seine Wohnung wurde vor einem Jahr auf Antrag der Staatsanwaltschaft schon durchsucht. Die Ermittlungen dauern an. Auch in dem jüngsten Gutachten des Bundesamtes für Verfassungsschutzes, das die AfD als Prüffall einstuft, wird P. erwähnt. Er sei "in neonazistischen Zusammenhängen in Erscheinung getreten". In der AfD gibt es Bestrebungen P. aus der Partei auszuschließen.

Seit 2016 gab es 16 rechtsmotivierte Brandanschläge

Wie berichtet, hat die Generalbundesanwaltschaft (GBA) die rechtsextreme Anschlagsserie zum "Gegenstand eines Beobachtungsvorgangs" erklärt. Zuvor hatten Betroffene und Bezirkspolitiker im Dezember die Behörde in Karlsruhe aufgefordert, die Serie von Brandanschlägen als rechten Terror einzustufen und die Ermittlungen zu übernehmen.

Dafür sind aber laut GBA die gesetzlichen Bedingungen – etwa der Verdacht auf Gründung einer terroristischen Vereinigung – nicht erfüllt, bislang jedenfalls. Die Bundesanwaltschaft tausche sich seit Beginn der Anschläge jedoch regelmäßig mit den Berliner Behörden aus und prüfe fortlaufend – um "das Verfahren unverzüglich übernehmen zu können". Seit 2016 wurden laut Bezirksamt 51 rechtsmotivierte Angriffe in Neukölln verübt, davon 16 Brandschläge. Die Betroffenen eint das Engagement gegen Rechtsextremismus.

Die AfD reagierte empört auf den Brandanschlag in der Nacht zu Donnerstag. „Die Gewaltspirale gegen die AfD dreht sich weiter“, erklärte der AfD-Landesvorsitzende Georg Pazderski auf Twitter. „Die linksradikalen Brandstifter stehen den rechtsradikalen offenbar in nichts nach“, sagte Parteisprecher Ronald Gläser. Dass nun ein frühere Mitarbeiter der Amadeu Antonio Stiftung und des MBR ein Tatverdächtiger sei, zeige, dass die Organisationen "ungeeignet für die staatliche Finanzierung aus Steuermitteln sind", sagte Gläser. "Für sie ist Demokratieförderung ein Fremdwort."

Engpässe und Meldestau bei der Polizei

Es ist einer von zwei Fällen binnen weniger Tage, bei denen es um politische Gewalt gegen Parteien und ihre Vertreter geht: Vergangenen Montag wurde der Trabant des Hellersdorfer CDU-Politikers Andreas Herrmann schwer beschädigt, die Sitze mit ätzender Flüssigkeit übergossen. Ein Automechaniker wurde leicht verletzt. Der polizeiliche Staatsschutz ermittelt.

Doch wie viele politisch motivierte Straftaten es im Zusammenhang mit Partei- und Abgeordnetenbüros im Jahr 2018 in Berlin darüber hinaus tatsächlich gab, vermag die Berliner Polizei derzeit nicht zu sagen. Der Grund: personelle Engpässe, gestiegene Fallzahlen und der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt im Jahr 2016.

Rückstände beim Erfassen von politischer Gewalt

Das geht aus der bislang unveröffentlichten Antwort der Senatsinnenverwaltung auf Anfrage der Linken-Politiker Niklas Schrader und Anna Helm hervor. Denn durch die genannten Umstände seien erhebliche Erfassungsrückstände im Kriminalpolizeilichen Meldedienst entstanden, „die trotz intensiver Bemühungen bislang nicht aufgearbeitet werden konnten“.

In der Antwort von Innenstaatssekretär Torsten Akmann (SPD) heißt es weiter: „Valide Fallzahlen vor allem für das Jahr 2018 liegen demnach nicht vor.“ Man habe sich jedoch zum Ziel gesetzt den Rückstand bis zum 31. Januar 2019 aufgearbeitet zu haben. Am Donnerstag teilte Polizei mit, die Zahlen würden derzeit noch mit denen des Bundeskriminalamts abgeglichen, ob der Rückstand schon aufgeholt wurde, konnte nicht bestätigt werden.

Laut der Anfrage hat es nach den vorläufigen Zahlen der Polizei im vergangenen Jahr mindestens 36 Attacken auf Parteibüros gegeben. 20 Mal sollen die Täter aus dem linksextremistischen Umfeld kommen, fünf Mal werden rechtsradikale Täter vermutet. Büros der SPD waren mit 17 Angriffen mit Abstand am häufigsten Ziel von Straftaten. Es folgen acht Angriffe auf Büros der Linken und sechs auf Büros der AfD.

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