Obdachlose, Flaschensammler, Alkoholiker: Mittellose Schwarzfahrer einzusperren, kostet Berlin Millionen
Wer häufig ohne Fahrschein Bahn fährt und sein Strafgeld nicht zahlen kann, kommt ins Gefängnis. Die Rechnung zahlt der Steuerzahler – der Senat wirkt machtlos.
Es sind oft die Ärmsten der Armen, sie kosten das Land jährlich mehrere Millionen Euro. 2019 saßen 913 Menschen in Berlins Gefängnissen, weil sie eine Strafe nicht zahlen konnten oder wollten. Das geht aus der Antwort der Justizverwaltung auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Petra Vandrey hervor. Demnach ist die Zahl seit 2018 (mehr als 1000 Ersatzfreiheitsstrafen) zwar gesunken, die Kosten bleiben aber enorm.
„Ein Tag im Gefängnis kostet pro Inhaftierten rund 150 Euro“, sagt Justizsprecher Michael Reis. Da Ersatzfreiheitsstrafen in der Regel bei 30 Tagen liegen, summierten sich die Kosten allein im vergangenen Jahr auf mehr als vier Millionen Euro. Immerhin, durch das Projekt „Schwitzen statt Sitzen“ hat Berlin viel Geld gespart. Dabei werden die Gefängnistage durch gemeinnützige Arbeit wie Malern oder Pflege von Grünanlagen ausgeglichen. 2019 wurden so mehr als 50.000 Hafttage vermieden.
Berlin will, dass Schwarzfahren als Ordnungswidrigkeit zählt
Wie in den Vorjahren saßen auch 2019 die meisten Menschen mit Ersatzfreiheitsstrafe für „Erschleichen von Leistungen“ ein: Auf fast 500 traf dies zu. „Die überwältigende Mehrheit stellen dabei Schwarzfahrer“, sagt Reis. „Menschen, die wegen Schwarzfahrens ihre Strafe nicht zahlen können, sind im Gefängnis nicht an der richtigen Stelle“, sagt die Abgeordnete Vandrey.
Als rechtspolitische Sprecherin ihrer Partei hat sie sich in den Gefängnissen ein Bild gemacht. Die Täter benötigten Hilfe statt Strafe: Obdachlose, Flaschensammler, Alkoholiker. Vandrey plädiert für eine Entkriminalisierung von Schwarzfahrern, das Delikt müsse aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden.
Das Thema steht schon lange auf der Agenda von Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne). Bereits 2018 forderte er, das Fahren ohne Fahrschein als Ordnungswidrigkeit herabzustufen. Nach langem koalitionsinternem Hin und Her unterstützte Berlin zuletzt eine Bundesratsinitiative aus dem damals noch rot-rot-grün regierten Thüringen.
Am 20. September 2019 kam der Antrag ins Plenum des Bundesrats, vorgestellt vom Berliner Justizsenator: „Ein starker Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht mit Kanonen auf Spatzen schießt.“ Im Anschluss an seine Rede wurde der Gesetzesantrag ohne Diskussion in vier Ausschüsse überwiesen, federführend in den Rechtsausschuss. Danach hörte man nichts mehr von dem Gesetzesentwurf. Was ist also seit Ende September passiert?
„Theoretisch kann der Antrag für immer schlummern“
Anruf in der Verwaltung des Bundesrats: Antrag 424/19 sei „nicht plenarreif“, sagt eine Sprecherin. In mindestens einem der vier nicht-öffentlichen Ausschüsse hat der Antrag keine Mehrheit – angesichts der komplizierten Machtverhältnisse im Bundesrat keine Seltenheit.
„Berlin und Thüringen sind Länder, deren Initiativen häufig nicht glatt durchgehen“, sagt die Sprecherin. In welchem Ausschuss es hakt, konnte sie nicht sagen. Solange man sich dort nicht einigen kann oder ein Bundesland den Antrag initiativ wieder ins Plenum einbringt, gehe es nicht weiter. „Theoretisch kann ein Antrag da für immer schlummern.“
Justizsprecher Reis betont, man habe das Thema weiter auf der Agenda. „Wir sind daran interessiert, dass der Antrag eine Mehrheit findet.“ Durch die Abwahl von Rot-Rot-Grün in Thüringen ist dieser Wunsch jedoch ferner denn je. „An den Mehrheiten können wir nichts ändern.“
Abwarten und auf linke Mehrheiten warten? Petra Vandrey hat noch eine andere Idee. Sie möchte das Umrechnungssystem ein Tag Freiheitsstrafe für einen Tagessatz auf zwei zu eins umwandeln. „Ein Tag Freiheitsentzug wiegt viel schwerer als ein Tagessatz“, findet sie. Ihr Vorschlag würde die Ersatzfreiheitsstrafen – und damit auch die Kosten – auf einen Schlag halbieren – doch auch die Änderung des Umrechnungssystems ist Bundessache. Berlin bleibt nur eine weitere Bundesratsinitiative.