Weihnachtsmärkte in Berlin: Mit Glühwein und Lebkuchenherz gegen den Terror? Ohne mich!
Politiker, Polizisten und aufrechte Bürger rufen auf zur kollektiven Mutprobe: Ab zum Weihnachtsmarkt – gegen den Terror! Ohne mich. Ich bin nicht in der Stimmung.
Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens, fällt in diesem Jahr für mich etwas privater und familiärer aus als sonst. Mein Bedürfnis, mich durch den Besuch eines Weihnachtsmarktes in Adventsstimmung zu versetzen, geht gegen null. Das hat auch mit den Terroranschlägen von Paris zu tun, mit der schwer einschätzbaren Bedrohungslage, die es – wie überall in den Ballungsräumen Europas – auch in Berlin gibt.
Aber nicht nur. Was mich außerdem stört, ist, dass die Weihnachtsmärkte jetzt zu Kampfplätzen für die Freiheit deklariert werden. Ein Risikoexperte rät: „Gehen Sie ins Stadion und auf den Weihnachtsmarkt. Wer ängstlich ist, sollte Mut zeigen.“ Schließlich sei die Wahrscheinlichkeit, bei einem Autounfall, durch Passivrauchen oder einen Blitzschlag ums Leben zu kommen, sehr viel höher als die Gefahr, einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Und Bundesberuhigungsminister Thomas de Maizière meint: „Ein klammes Gefühl kann ich verstehen, vielleicht haben wir das alle. Aber wir sollten unsere Lebensweise nicht ändern.“
Wo immer sie gefragt werden, geben Politiker, Polizisten und andere aufrechte Bürger zu verstehen: Wir gehen auf den Weihnachtsmarkt. Gibt es auch Anlass zur Sorge, wir lassen uns das Pfeifen im Wald nicht verbieten.
Ohne mich! Meine Ängste sind nicht mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu steuern. Auch meine Hoffnungen nicht, sonst wäre ich kein Lottospieler. Im Augenblick vermeide ich größere Menschenansammlungen, besonders an zentralen Orten der Stadt. Ich habe im Moment auch wenig Lust, Konzerte zu besuchen. Und wer mir jetzt erzählt, dass wir gerade nach den Anschlägen von Paris, angesichts des Terror-Daueralarms, Flagge für die Freiheit zeigen müssten, dem sage ich: Dann nehme ich mir an dieser Stelle die Freiheit, mich der kollektiven Dienstverpflichtung für Demokratie und liberale Lebensart zu verweigern.
Jeder darf selbst entscheiden - auch das ist Freiheit!
Ich gehe doch nicht als politischer Aktivist auf einen Weihnachtsmarkt! Ich sehe nicht ein, warum ich mir mit Glühwein und Lebkuchenherz Mut machen soll im Kampf gegen den Terrorismus. Ich bin dafür einfach nicht in Stimmung. Und ich komme leider auch nicht für militärische Kampfeinsätze infrage. Mir fehlt das Rüstzeug dazu; ich habe den Wehrdienst verweigert. Bitte, machen Sie mir deshalb keine Vorwürfe: Das war damals ganz legal, und inzwischen ist die Wehrpflicht ja ganz abgeschafft. Jeder darf selbst entscheiden, mit welchen Waffen er sich gegen Bedrohungen seiner Lebensweise verteidigen will. Auch das ist Freiheit.
Ich bin Zivilist. Und als Zivilist sehe ich überhaupt keinen Grund, wegen der irrsinnigen Bluttaten einer Mörderbande eine Verteidigungshaltung – und sei es nur eine symbolische – einnehmen zu müssen. Ich habe mich für nichts zu rechtfertigen, und ich muss niemandem etwas beweisen. Es sind die Täter und ihre Anführer, über die zu richten ist.
Glücklicherweise steht es in diesem Land jedem frei, auf den Weihnachtsmarkt, ins Konzert oder ins Fußballstadion zu gehen – oder eben nicht. Jeder entscheidet selbst, je nach Vorliebe oder Abneigung. Ich folge lieber meinen individuellen Interessen als kollektiven Erwartungen oder offiziellen Staatszielen. Meine eigene Lebensweise mag nicht einzigartig oder besonders originell sein, aber ich möchte nicht, dass sie von der Gesellschaft vereinnahmt wird, auch nicht in Zeiten terroristischer Bedrohung.
Die Opfer des Terrors, ob 2001 in New Yorker World Trade Center oder 2015 in Paris, sind nicht für die Freiheit, für ihre Art zu leben oder zu lieben, ermordet worden. Sie sind nicht einmal persönlich gemeint gewesen, als Individuen. Ihre ganz eigenen Ansichten zu Politik, zur Gleichstellung der Geschlechter, Homosexualität oder Kunstfreiheit, ihre Religionszugehörigkeit spielten für die Terroristen nicht die geringste Rolle. Die Täter haben zwar die Schauplätze des Schreckens gezielt ausgewählt. Aber die Opfer wurden willkürlich getroffen. Sie waren zufällig da, wo niemand sein möchte: zur falschen Zeit am falschen Ort.
Dieser Text erschien zunächst als Rant in unserer Samstagsbeilage Mehr Berlin.