Rente auf zwei Rädern: Mit dem Fahrrad-Experten quer durch Europa
Michael Cramer ist der Mauerradweg und der „Iron Curtain Trail“ zu verdanken. Nach seinem Abschied aus der Politik tritt er selbst in die Pedale.
Michael Cramer ist jetzt Rentner, aber er merkt es bisher nicht: Gerade ist er zurück aus Vyborg in Russland, wo er auf einer Konferenz zu Radverkehr und Tourismus geredet hat. Anfang Oktober ist er nach Sibiu in Rumänien geflogen, um das vom Europarat verliehene Zertifikat „Cultural Route“ für seinen Radweg entgegenzunehmen. An der Begutachtungstour der Route vom mährischen Znojmo bis in die slowakische Hauptstadt Bratislava nahm er natürlich persönlich teil, außerdem hat er geschaut, wie Ausbau und Beschilderung entlang der polnischen Ostseeküste vorankommen.
Zwischendurch hat er Vorträge in Innsbruck und Kempten gehalten. Und im Sommer ist er durch Finnland geradelt: jene 700 Kilometer, die ihm von den insgesamt 10.400 Kilometern des „Europa-Radweges Eiserner Vorhang“ noch gefehlt hatten. So geht das, seitdem Cramer sich nach 15 Jahren aus dem Europäischen Parlament verabschiedet hat.
Das europäische Projekt
Davor wiederum saß der heute 70-Jährige 15 Jahre lang als Verkehrsexperte der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus. Auf seine Initiative hin hatte das Hauptstadtparlament 2001 beschlossen, den gut 160 Kilometer langen Mauerweg ums frühere West-Berlin zu beschildern und fahrradfreundlich herzurichten.
Bei seinem Wechsel nach Straßburg nahm Cramer die Idee mit – und erreichte 2005 den Beschluss des EU-Parlaments zum Ausbau des „Iron Curtain Trails“ von der norwegisch-russischen Grenze an der Barentssee bis zur bulgarisch-griechischen am Schwarzen Meer.
Ein Vorhaben mit Beteiligung von 20 Staaten, das je nach Anspruch und Perspektive irgendwo zwischen Jahrhundertprojekt und Tourismusförderung auf Basis des ohnehin Vorhandenen liegt. In jedem Fall ist es etwas, das bleibt.
In den meisten beteiligten Ländern sind vorhandene Landstraßen, Wald- und Radwege beschildert und um historische Informationen ergänzt worden. Cramer weiß von einer erstaunlichen Vielzahl von Denkmälern und Museen ausgerechnet im dünn besiedelten Finnland zu berichten.
Also dort, wo er im Spätsommer binnen neun Tagen die fehlenden 700 Kilometer gestrampelt ist. Die längste Etappe zwischen zwei Ortschaften mit Hotels sei gut 120 Kilometer lang, „aber die Strecke ist ja flach und im Sommer wird es nicht dunkel“.
Der Mauerweg bleibt Bestseller
Mit seiner Tour hat Cramer nicht nur sein eigenes Projekt vollendet, sondern auch die Recherchen verifiziert, für die er während seiner Zeit als Abgeordneter andere einspannen musste: lokale Grüne und Fahrradenthusiasten etwa oder seinen Sohn. Cramer reist nie ohne sein Korrekturexemplar des Radtourenbuches, in das er alternative Routen und Neuentdeckungen entlang des Weges einzeichnet.
Auch das Word-Dokument des Reiseführers aktualisiert er bei jeder Gelegenheit. Es ist sein Glück, dass er das mittlerweile auf fünf Bände angewachsene Tourenbuch bei Esterbauer herausbringen konnte. Der österreichische Verlag ist mit seinen Karten und Spiralos für die Lenkertasche in Deutschland der Platzhirsch für Radreiseführer.
Dass die Bücher zum Iron Curtain Trail auch auf Englisch verlegt werden konnten, hat Cramer durch Werbung bei anderen EU-Parlamentariern befördert: „Ich hab denen gesagt, es ist doch besser, Ihr schenkt Euren Besuchern lieber so ein Buch anstatt des 27. Kugelschreibers.“ So kamen genug Bestellungen für die englische Ausgabe zusammen.
Die deutsche sei immerhin in zweiter Auflage erschienen. Der Band mit dem innerdeutschen Abschnitt zwischen Lübeck und Hof erscheine demnächst in sechster Auflage. Aber auch das reicht nicht an den Bestseller heran: Das Buch zum Berliner Mauerradweg wird zurzeit in neunter Auflage verkauft. Mit 212 Seiten ist es dreimal so dick wie die Erstauflage, weil Cramer immer mehr Infos und Bilder anschleppt.
Der Mauerweg, der 160 Kilometer entlang der ehemaligen DDR-Grenzanlagen rund um das ehemalige West-Berlin verläuft, soll in den kommenden Jahren erneuert und attraktiver gestaltet werden. Das hat der Senat kürzlich beschlossen.
Deutschland tut sich schwer
Wie viele Menschen sich tatsächlich aufmachen, dem Riss zu folgen, der einst durch Europa ging, weiß auch Cramer nicht. In Finnland hat er ein australisches Paar getroffen, das die 2500 Kilometer nördlich der Ostsee radeln wollte. In Österreich werben lokale Tourismusverbände in eigenen Broschüren für die Route.
Aus Serbien weiß Cramer von besonders guter Beschilderung und zweisprachigen Infotafeln. Dort spiele wohl auch der Stolz darauf eine Rolle, dass Serbien westlich des Weges liegt – also historisch auf der freien Seite.
In Griechenland und Bulgarien wiederum limitiert die Topografie den Andrang: Bis zu 1700 Meter hoch sind die Pässe, über die die Route führt. „Dafür sind die Ausblicke spektakulär“, sagt Cramer, der dort schon auf Touren mit lokalen Honoratioren mächtig ins Schwitzen kam.
Auf die Frage, welche Staaten sich eher mit der Beschilderung dieses völkerverbindenden Großprojekts schwertun, fällt ihm zuerst Deutschland ein: „Hier macht eben jede Lokalpolitik ihr eigenes Ding, und der Bundesverkehrsminister … – nun ja, aus Radverkehrssicht schon traditionell ein Totalausfall.“ Aber in mehreren Bundesländern sei die Beschilderung in Arbeit oder schon vorhanden.
Auf den letzten Kilometern vor seinem Ende am Schwarzen Meer verläuft der Radweg ein Stück durch die Türkei und wechselt dann nach Bulgarien. Cramer hat zwei Fotos von der Grenze gemacht und übereinander auf einer Buchseite platziert. Sie zeigen doppelte Zäune; der eine verrostet und verwittert, der andere verzinkt und mit Stacheldrahtrollen bewehrt. Der eine stammt aus dem Kalten Krieg, der andere wurde 2015 installiert – um Flüchtlinge abzuwehren.