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15 Jahre EU-Parlamentarier, dafür 15 im Berliner Abgeordnetenhaus, davor 15 Jahre Lehrer. Im Juni wird Michael Cramer 70.
© Kai-Uwe Heinrich

Michael Cramer verlässt das EU-Parlament: Immer nur am Rad gedreht

Er ist Verkehrspolitiker mit Detailkenntnis und Leidenschaft. Nach 15 Jahren endet Michael Cramers dritte Karriere als EU-Parlamentarier.

Für Michael Cramer endet mit der Europawahl die dritte Karriere: 15 Jahre war er Lehrer, 15 Jahre saß er für die Grünen als Verkehrspolitiker im Berliner Abgeordnetenhaus, 15 im EU-Parlament. Moment mal: 45 Berufsjahre nach dem Studium? Ja, Cramers Abschied bedeutet: Rente mit 70. Passt doch, sagt er, Radfahrer leben ja fünf Jahre länger als andere.

Natürlich ist er auch zu diesem Gespräch geradelt, von Wilmersdorf nach Kreuzberg, gut zwei Stunden bevor sein Zug nach Wien fährt: Er hat dort am Wochenende Wahlkampftermine. Vorher bleibt noch Zeit, über seine 15 Jahre in Europa zu reden und ein bisschen über Berlin.

Das Parlament in Straßburg funktioniere ganz anders als nationale, weil es keine Regierung stützt, also auch nicht in Koalition und Opposition aufgeteilt ist. „Dadurch kann man auch als kleine Fraktion Mehrheiten organisieren.“

Sein Meisterstück: Das Fahrgastrecht

Die Mehrheiten sollten aber möglichst groß sein, um Rat und Kommission zu überzeugen. Wie sich die drei EU-Institutionen gegenseitig ausbalancieren, erzählt Cramer anhand seines Meisterstücks, der Fahrgastrechte: Rat und Kommission hätten geplant, dass die Entschädigungen bei Verspätung oder Ausfall von Zügen nur im internationalen Verkehr gelten sollten, aber nicht innerhalb der Landesgrenzen. „Da waren wir uns in allen Fraktionen einig, dass wir diesen Quatsch nicht mitmachen“, sagt Cramer. „Wenn Sie also heute auch bei verspäteter Fahrt von Berlin nach München eine Erstattung bekommen, denken Sie dran: Das waren wir, die Europa-Parlamentarier.“

Alle paar Minuten mündet das Gespräch mit Michael Cramer in solchen Details wie ein Zug in seiner Endstation. Das mag daran liegen, dass Cramer immer Fachpolitiker war und sein wollte, also weder Strategiefuchs noch Chef von irgendwas – mit Ausnahme der Verkehrsausschüsse, denen er sowohl in Berlin als auch in Brüssel zeitweise vorsaß.

Cramer hat sich ohnehin gern ums Kleine gekümmert, weil um ihn herum nach seinem Eindruck oft zu groß gedacht und geplant wurde und wird: „Auch nach 30 Jahren milliardenschwerer Investitionen ist das europäische Eisenbahnnetz ein Flickenteppich – und die Lücken sind genau da, wo die Grenzen sind.“

Nationale Regierungen stellen die guten Dinge als ihre eigene Leistung dar, ärgert sich Cramer. Und die unerfreulichen als Werk der europäischen Institutionen

Die Präferenz, lieber Milliarden in Prestigeprojekte mit jahrzehntelanger Bauzeit und fragwürdigem Nutzen zu stecken, statt deutlich kleinere Beträge in notwendige Lückenschlüsse zu investieren, sei ungebrochen. So ließe sich für 100 Millionen Euro die Zugfahrzeit zwischen Berlin und Schlesien mit seinen vielen Großstädten um zweieinhalb Stunden verkürzen. Wobei an solchen Versäumnissen nicht die EU schuld sei, da sie Projekte immer nur kofinanziere. „Es passiert also nichts gegen den Willen der jeweiligen Mitgliedstaaten.“

Als EU-Parlamentarier wurmt ihn die Routine, mit der nationale Regierungen die guten Dinge als ihre eigene Leistung darstellen und die unerfreulichen als Werk der europäischen Institutionen deklarieren: Die Regeln zur Gurkenkrümmung oder das Glühlampenverbot „gäbe es ohne Zustimmung der Regierungen nicht – aber Schuld hat fast immer die EU“, sagt Cramer.

Ein Tory habe ihm kürzlich erzählt, dass die britischen Regierungen dieses Schema über Jahrzehnte besonders konsequent benutzt hätten. Das Resultat ist bekannt.

Die ersten zehn seiner 15 EU-Jahre hat Cramer als die erfreulicheren in Erinnerung: Die Euphorie und wechselseitige Neugier während der Osterweiterung der Union seien sehr besonders gewesen und eben anders als die heutige Ernüchterung samt den Attacken von rechts.

Der Sitzungssaal des EU-Parlaments während einer Plenartagung im April 2016. Das Personal dürfte nach der Wahl am kommenden Sonntag zu großen Teilen ausgewechselt werden.
Der Sitzungssaal des EU-Parlaments während einer Plenartagung im April 2016. Das Personal dürfte nach der Wahl am kommenden Sonntag zu großen Teilen ausgewechselt werden.
©  Laurent Dubrule/dpa

Dass längst nicht alles, was das EU-Parlament beschließt, bei den Bürgern ankommt, hat Cramer beim Thema Verkehrssicherheit erlebt: Es war ihm eine Sternstunde, als eine breite Mehrheit den Städten „nachdrücklich empfohlen hat, Tempo 30 innerorts zur Regelgeschwindigkeit zu machen“ – mit den Stimmen aller deutschen Abgeordneten auch von CDU, CSU und FDP!

Umgesetzt worden sei die Empfehlung beispielsweise in Graz und im spanischen Pontevedra. An Deutschland hingegen ging sie vorbei.

Überhaupt, Deutschland. Das größte Mitglied hat nach Cramers Eindruck an Reputation verloren, seit es etwa Polen seine anachronistische Energieversorgung auf Kohlebasis vorhalte und zugleich den Klimaschutz torpediere, um die heimische Autoindustrie vor strengeren Abgasgrenzwerten zu verschonen.

Den Mauerweg hat er initiiert, den „Iron Curtain Trail“ nach gleichem Prinzip etabliert

Wenn am 2. Juli das neue EU-Parlament zusammentritt, wird Cramer die Dinge letztmalig aus der Nähe verfolgen. Seine Wohnung in Brüssel ist gekündigt, in Straßburg hat er eh im Hotel gewohnt. Nach 42 Sitzungswochen pro Jahr – „der Bundestag hat 22, so viel zum Thema faule Europaparlamentarier“ – freut er sich darauf, mehr Zeit zum Radeln zu haben, sowohl in Berlin, wo er den Mauerweg initiiert hat, als auch in der Ferne, wo er nach dem gleichen Prinzip den „Iron Curtain Trail“ etablieren konnte, von dessen 10.000 Kilometern ihm nach eigenem Bekunden noch reichlich Tausend fehlen.

„Mein Plan ist, dass ich keinen Plan habe“, sagt Cramer. Die Gefahr, dass er sich langweilen könnte, sieht er nicht. Zumal er auch zur Berliner Verkehrspolitik viel sagen könnte, sofern er gefragt wird. Er hätte zum Beispiel lieber 120 Kilometer Tram in zehn Jahren gebaut statt fünf Kilometer U-Bahn in 30 Jahren. Die Fehler gleichen sich hier und anderswo. So gesehen ist Europa vereint.

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