Kann die BVG das 365-Euro-Jahresticket stemmen?: Michael Müllers Idee und ihr Preis
Höhere Kosten, weniger Ticket-Erlöse: Die Pläne des Regierenden werden teuer. Die Finanzen der BVG wackeln jetzt schon - das gilt für Berlin insgesamt.
Es ist noch gar nicht so lange her, da waren die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) ein schwerer Problemfall. Über viele Jahre galt das landeseigene Unternehmen als chronisch unterfinanziert und erwirtschaftete jährlich hohe zweistellige Millionenverluste. Zuletzt im Geschäftsjahr 2012 mit 58 Millionen Euro. Erst harte Sparmaßnahmen brachten die BVG wieder in die schwarzen Zahlen: Am Personal wurde radikal gespart, in neue Fahrzeuge kaum noch investiert und die Fahrpreise stiegen kräftig.
Dieses Jahr erhofft die BVG 1,4 Millionen Gewinn
Trotzdem wurde der öffentliche Nahverkehr von den Berlinern und ihren Gästen besser angenommen. Denn die Bevölkerung wuchs, die Touristen kamen in Scharen und viele stiegen vom Auto auf Bus und Bahnen um. Mobilität und Klimaschutz in den großen Städten wurde ein großes Thema. Jedenfalls kam die BVG wieder auf die Beine und erwirtschaftet sogar bescheidene Überschüsse. Im vergangenen Jahr waren es 13,2 Millionen Euro und in diesem Jahr plant der Konzern noch mit einem Plus von 1,4 Millionen Euro. Diese Prognose wird jedoch kaum zu halten sein. Für die BVG werden die Zeiten wieder härter.
Schnell könnte das öffentliche Großunternehmen wieder in Schieflage geraten, was auch ein Grund ist, weshalb die aktuellen Gedankenspiele des Regierenden Bürgermeisters vielerorts keine Jubelstürme ausgelöst haben. Michael Müller (SPD) möchte gern, dass das BVG-Ticket nach Wiener Vorbild nur noch 365 Euro jährlich kostet – also fast die Hälfte der heutigen 761 Euro heute – und hat am Sonnabend erneut bekräftigt, warum er das für sinnvoll und machbar hält.
Kann die BVG, ja kann Berlin sich das leisten?
Konsolidiert sich die Verkehrsbetriebe sind noch lange nicht: Altschulden in Höhe von 748 Millionen Euro belasten die Bilanz, der Tarifabschluss vom April dieses Jahres erhöht die Personalkosten um 100 Millionen Euro jährlich und die Tarife des Verkehrsverbunds Berlin-Brandenburg (VBB) sind seit Anfang 2017 eingefroren. Schon nach dem Tarifkompromiss im April hatte eine BVG-Sprecherin im Tagesspiegel gesagt: „Da wir ein Landesunternehmen sind, muss sich die Politik entscheiden – entweder die Zuschüsse erhöhen oder höhere Fahrpreise.“
Der Verkehrsverbund drängt auf höhere Fahrpreise
Mit einer Halbierung der Preise für das Berliner Umweltticket, die Müller offenbar durchkämpfen will, würden der BVG weitere 100 Millionen Euro pro Jahr verloren gehen. Angesichts der fragilen Gesamtlage des Unternehmens wäre das wirtschaftlich nicht zu verkraften. Für die Brandenburger Verkehrsunternehmen erst recht nicht. Inzwischen drängt der gesamte Verkehrsverbund darauf, dass die Fahrpreise ab Januar 2020 wieder steigen. Vor vier Jahren war vereinbart worden, Tariferhöhungen an Inflationsrate und Energiekosten zu koppeln. Für das nächste Jahr wären demnach Preiserhöhungen von drei bis vier Prozent vertretbar.
Dass es dazu tatsächlich kommt, ist wegen des Widerstands aus Berlin aber eher unwahrscheinlich.
Ohne eine Tariferhöhung, heißt es im jüngsten BVG-Lagebericht, seien die Einnahmeausfälle durch sinkende Tarife aber nicht „durch entsprechende Kundengewinnung zu kompensieren“. Denn 2019 werde die Zahl der Fahrgäste voraussichtlich nur moderat steigen. Auch mittelfristig fehlt dem Unternehmen Planungssicherheit. Denn eine länderübergreifende „Arbeitsgruppe Tarife“ bastelt seit dem vergangenen Jahr an einer Reform des gesamten Preissystems des VBB, dessen größtes Verbandsmitglied die Berliner Verkehrsbetriebe sind.
Alternativ ist beispielsweise ein Bürgerticket im Gespräch
Der Berliner Senat geht inzwischen davon aus, dass attraktive, und damit auch günstige Tarife nur dann finanzierbar sind, wenn die Verkehrsunternehmen zusätzliche Einnahmequellen erschließen dürfen. Im neuen Berliner Nahverkehrsplan werden als „alternative Formen der Finanzierung“ ein Bürgerticket oder „die Heranziehung der Nutznießer des öffentlichen Personennahverkehrs“ genannt. Gemeint ist wohl eine Mobilitätsabgabe, die alle Berliner zahlen sollen. Dies könnte auch private Unternehmen treffen. Ob und wann so etwas realisierbar ist, bleibt vorerst offen.
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Das neue Tarifkonzept soll trotzdem schon ab Mitte 2021 greifen, gerade noch rechtzeitig vor der Abgeordnetenhauswahl. Im Vorgriff hatte Rot-Rot-Grün bereits die Abos für Schüler und Azubis, die Sozial- und Jobtickets verbilligt oder sogar kostenfrei gestaltet. Rechnet man die Freifahrt für Schwerbehinderte dazu, kosten diese sozialen Tarife jedes Jahr rund 130 Millionen Euro. Das Geld kommt aus dem Landeshaushalt, steht der BVG als „Ersatz für Einnahmefälle“ zu und belastet die Konzernbilanz nicht.
Die Berliner Tarifreform soll 2020 vorgestellt werden
Ein Entwurf für die Tarifreform soll schon 2020 vorgestellt werden. Das fällt zeitlich eng zusammen mit einem neuen Verkehrsvertrag, den das Land Berlin über 15 Jahre mit der BVG abschließen möchte. Der geltende Vertrag läuft im August 2020 aus. Derzeit werde das weitere Verfahren abgestimmt, teilte die zuständige Finanzverwaltung auf Anfrage mit. Die eigentlichen Verhandlungen sollen nach den Sommerferien beginnen. Grundlage ist eine Absichtserklärung, auf die sich der Senat und die Verkehrsbetriebe schon 2016 geeinigt haben.
Der Senat will die BVG finanziell großzügig absichern
Im neuen Verkehrsvertrag soll die Finanzierung eines neuen Fahrzeugparks bis 2035 im Wert von 3,1 Milliarden Euro abgesichert werden. Davon 2,3 Milliarden Euro für eine neue U-Bahnflotte. Dafür wurde eine Tochtergesellschaft der BVG gegründet, die ausreichend kreditfähig ist. Die anfallenden Kapitalkosten von jährlich 99,6 Millionen Euro werden aus dem Berliner Haushalt gezahlt. Darüber hinaus soll die BVG einen Jahresbetrag von 600 Millionen Euro für den laufenden Betrieb, Wartung, Instandsetzung und Investitionen in das Streckennetz erhalten.
Diese Zahlen beruhen allerdings auf Berechnungen, die fünf Jahre alt sind. „Nachsteuerungen“ seien möglich, versichert der Senat. Noch hofft Finanzsenator Matthias Kollatz (SPD), dass der neue Verkehrsvertrag den Landeshaushalt nur mit zusätzlich 50 Millionen Euro jährlich mehr (im Vergleich zum alten Verkehrsvertrag) belastet. Experten bezweifeln, dass dies realistisch ist. Die BVG wohl auch. Die Vertragsverhandlungen könnten spannend werden.
Ein anderes ungelöstes Problem sind die Personalkosten der BVG. Der Tarifabschluss mit Verdi, der im April ausgehandelt wurde, erhöht die Ausgaben für die 14.700 Mitarbeiter (davon rund 10.000 im Bereich Bus, Tram und U-Bahn) um jährlich 100 Millionen Euro. Im BVG-Wirtschaftsplan für 2019 sind aber nur Mehrkosten von 30 Millionen Euro eingepreist. Der BVG-Vorstand hatte vor den Tarifgesprächen Signale des Senats aufgefangen, dass das Land Berlin die Hälfte des Tarifabschlusses übernehmen wolle. Im Haushaltsentwurf für 2020/21, der vom Senat im Juni vorgelegt wurde, findet sich dafür aber kein Geld.
Die Gewerkschaft Verdi fürchtet eine höhere Arbeitsbelastung
Die Regierungsfraktionen SPD, Linke und Grüne haben bisher auch nicht zu erkennen gegeben, ob sie in den parlamentarischen Etatberatungen im Herbst die Finanzlücke zugunsten der BVG stopfen wollen. Falls nicht, werde dies zu weiteren Sparprogrammen bei der BVG und einer höheren Arbeitsbelastung für die Mitarbeiter führen, kritisiert die Gewerkschaft Verdi jetzt.
Ohne eine auskömmliche Finanzierung der Verkehrsbetriebe werde es auch nicht gelingen, deren Altschulden wie geplant bis 2033 abzubauen. Das Landesunternehmen hat einen Schuldenberg aus alten, schlechten Zeiten zu verkraften. Doch auch im vergangenen Jahr haben sich die Kreditverbindlichkeiten um weitere 69 Millionen Euro auf 748 Millionen Euro erhöht.
Für den Berliner Landeshaushalt ist die Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs ebenfalls ein großer Kraftakt. Alle Zahlungen an die BVG summieren sich im nächsten Jahr nach Angaben der Finanzverwaltung auf 820 Millionen Euro, im Folgejahr sind es 875 Millionen Euro. Rechnet man die Zuschüsse für den Regionalverkehr, die S-Bahn und weitere Ausgaben für den öffentlichen Personennahverkehr hinzu, wird der Berliner Etat mit jährlich fast 1,2 Milliarden Euro belastet.
Nur knapp die Hälfte dieser Kosten wird durch Einnahmen ausgeglichen, die großenteils der Bund und die EU leisten. Nicht nur die BVG, sondern auch Berlin gerät allmählich an eine finanzielle Leistungsgrenze.