Unterwegs mit einem Stadtführer: Mehr Touristen interessieren sich für Neukölln
Reinhold Steinle ist Stadtführer und inoffizieller Botschafter Neuköllns. Doch auch große Tourenveranstalter bringen ihre Kunden in den Bezirk.
Reinhold Steinle steht inmitten der Souvenirs im Info-Center Neukölln und zeigt nach oben: „Das hier war früher der Haupteingang vom Rathaus.“ Zehntausende Glassteine bilden in dem Rundbogen über ihm ein kunstvolles Mosaik. Steinle ist Stadtführer, seit neun Jahren zeigt er Touristen und Berlinern Neukölln. Jeden Mittwoch steigt der 55-Jährige bei Wind und Wetter mit Interessierten auf den Neuköllner Rathausturm.
+„Das Glasmosaik wurde von der Neuköllner Firma Puhl & Wagner angefertigt, die 1969 bankrott ging“, erklärt er. Steinle begeistert sich für die Bezirksgeschichte und versucht sie seinem Publikum nahezubringen. „Manchmal bedanken sich Teilnehmer später bei mir für die neuen Erkenntnisse und meinen damit besonders den Hinweis auf die Rathauskantine“, sagt er und schmunzelt. „Auch das ist für mich schon ein Erfolg.“
Inoffizieller Botschafter Neuköllns
Der Schwabe ist längst ein gefühlter Berliner und mittlerweile eine Art inoffizieller Botschafter Neuköllns. Dabei lebt er seit zwölf Jahren in Schöneberg. Aus seiner alten Wohnung mitten im Schillerkiez sei er damals ausgezogen, weil der Nachbar unter ihm den ganzen Tag Techno gehört habe. Es sei ihm auch insgesamt auf Dauer zu laut im Viertel, zu viel Bewegung auf der Straße. Dennoch führt er bis heute ausschließlich durch Neukölln.
Ihn faszinieren vor allem die Vergangenheit Neuköllns und die soziale Mischung, die auch immer wieder zu Spannungen führt. Dabei ist er über die Jahre zu einem Beobachter der Vorgänge im Bezirk geworden: „Gerade ist besonders die Angst vor Verdrängung überall spürbar“, sagt er. „An vielen Menschen gehen die Veränderungen einfach vorbei, viele Hartz IV-Empfänger können sich in den neuen Cafés nicht mal mehr einen Kaffee leisten.“ Wenn es so weiterginge, sei Neukölln bald ein zweites Prenzlauer Berg. „Wo sollen die ganzen Menschen dann hinziehen?“
Mehr Touristen in Neukölln
Währenddessen begeistern sich zunehmend Touristen für Neukölln. Große Tourenveranstalter chauffieren ihre Kunden immer häufiger in den Szene-Bezirk und locken mit Einblicken in „das andere Berlin“. „Die haben sich mit dem Bezirk aber oft gar nicht wirklich auseinandergesetzt“, beklagt Steinle. Ihm hingegen ist vor allem der Austausch mit der Nachbarschaft und lokalen Initiativen wichtig.
So hat er etwa 2012 fleißig Unterschriften für die Offenhaltung des Tempelhofer Feldes gesammelt. Außerdem arbeitet er viel mit dem Museum Neukölln zusammen und hilft ehrenamtlich im Info-Center im Rathaus, wo an diesem Sommertag auch die Führung beginnt.
Steinle steht im Hotel Rixdorf auf der Bühne
In seiner Freizeit versucht er sich zudem als Kleindarsteller, stand schon für einen Film vor der Kamera, in dem Henry Hübchen die Hauptrolle hatte. Aber auch beim Schauspielen bleibt die Leidenschaft für Neukölln wichtig: Meistens steht Steinle im Hotel Rixdorf auf der Bühne, zuletzt bei der Aufführung „Der Diktator von Rixdorf“.
Zu den Stadtführungen kam der 55-Jährige, als ihn eine Freundin vor einigen Jahren fragte, ob er nicht im Rahmen des Kunstfestivals „48 Stunden Neukölln“ durch den Schillerkiez führen wolle. „Da habe ich einfach mal Ja gesagt, obwohl ich gar keine Ahnung von Neukölln hatte“, berichtet er. Heute ist der gelernte Sozialpädagoge, der in seinem Leben schon „alles Mögliche“ gemacht hat, Stadtführer mit Leib und Seele. Zwar verdiene er deutlich weniger als früher, habe dadurch aber viel mehr Freiheit gewonnen: „Ich muss das Gleiche nie zweimal erzählen.“
Besonders mag er die Arbeit mit Kindergruppen: „Ab und zu mache ich Führungen mit Flüchtlingskindern, die gerade Deutsch lernen“, erzählt Steinle, der früher auch schon als Lehrer tätig war. „Das ist toll, die sind total offen für ihre Umwelt und lassen sich begeistern.“
Mittlerweile bietet Steinle sieben verschiedene Touren an, durch den Körnerkiez ebenso wie durch den Schlosspark Britz. Das Rathaus bleibt für ihn aber ein ganz besonderer Ort. So macht er jeden Mittwoch, wenn er den Turm besteigt, ein Foto: „Der Blick ist jedes Mal ein bisschen anders, ich entdecke immer noch neue Landmarken“, sagt er, strahlt und drückt auf den Auslöser.
Madlen Haarbach