Wie aus Rixdorf Neukölln wurde: Der Ruf war ruiniert
Vor 100 Jahren wurde Rixdorf in Neukölln umbenannt – aus Imagegründen. Aber ihre Probleme konnte die damals selbstständige Stadt nicht loswerden.
Na so was, Reinhold Steinle stutzt. Was macht der Lange Kerl da in seinem Revier? In vollem Wichs steht ein preußischer Gardist vor der Rixdorfer Schmiede am Richardplatz statt in Potsdam die Touristen zu verschrecken. Steinle pirscht sich ran und erfährt erleichtert, dass der Lulatsch Werbung für die Lange Nacht der Museen am kommenden Sonnabend macht. Mit dem 100. Geburtstag Neuköllns hat er nichts zu tun. Steinle schon. Seit 2008 kümmert sich der Kleinkünstler mit dem schwäbischen Akzent aktiv um die Imagepflege Neuköllns – mit Führungen, in denen er nur Gutes über die wahlweise als Problembezirk, Gentrifizierungsgebiet oder Kreativkiez verrufene Gegend zwischen Landwehrkanal und S-Bahnring erzählt. Selbstredend hat er zum 100. auch eine Geburtstagsführung aufgelegt, die hier auf dem Richardplatz, der Wiege Rixdorfs, beginnt. Denn Neukölln, also der gleichnamige Ortsteil des inzwischen auch Britz, Buckow, Gropiusstadt und Rudow umfassenden Berliner Bezirks, das hieß bis 1912 Rixdorf.
Und wie Rixdorf an Kaisers Geburtstag, also dem 27. Januar, zu Neukölln wurde, das ist ein ziemlicher Krimi. Eine neue Ausstellung des Museums Neukölln im Rathaus an der Karl-Marx-Straße erzählt auf 16 Schautafeln mit historischen Fotos, Postkarten und Dokumenten davon. Und im ehrwürdigen Bezirksverordnetensaal spielten kostümierte Schauspieler und Politiker wie Kulturstadträtin Franziska Giffey zur Eröffnung die Stadtverordnetensitzung vom 18. Januar 1912 nach, bei der die Umbenennung im Handstreich entschieden wurde.
Wobei es darum ging? Um den Kampf konservativer Kaisertreuer gegen den rasanten Machtzuwachs der Sozialdemokraten und um Immobilien- und Grundstücksspekulation, das alles verpackt in eine Imagekampagne, erzählt Ausstellungsmacher Henning Holsten. Denn die Stadt Rixdorf, die damals mit fast 255 000 Menschen zu den einwohnerstärksten Großstädten in Deutschland gehörte, hatte im Kaiserreich einen genauso wüsten Ruf wie Neukölln heute.
Schuld daran war der „Rixdorfer“ genannte Gassenhauer „In Rixdorf is Musike“, den der dazu Schieber tanzende Komiker Heinrich Littke-Carlsen 1889 populär machte. Frivole Engtänze wie dieser konnten die Sittlichkeitsvereine der Kaiserzeit gar nicht gutheißen, 1912 wurde Schiebertanzen polizeilich verboten. Und die gestrengen bürgerlichen Stadtväter Rixdorfs setzen ihren jahrelang teils offen, teils heimlich betriebenen Plan um, den Lotterleumund der Stadt als Armutsquartier, Sozi-Brutstätte und proletarisches Vergnügungsviertel durch den Wechsel zum damals noch jungfräulichen Namen Neukölln zu erzwingen. Der leitet sich von der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln ab. Die Umbenennung geschieht gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, aber mit Unterstützung des Kaisers, wie Henning Holstens neue Aktenfunde belegen. „Gegen den Willen der Bevölkerung hat das eine kleine politische Clique aus Hauseigentümern und Grundstücksspekulanten im Rixdorfer Magistrat durchgesetzt“, sagt er.
Die erhofften sich vom Bruch mit der Namenstradition der aus den Dörfern Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf hervorgegangenen, während der Industrialisierung geradezu explodierten und zwischen Hasenheide und Richardplatz mit 150 Amüsierbühnen und unzähligen Spelunken sowie jedem denkbaren Armutselend gesegneten Stadt eine Aufwertung. Etwa für die satte Profite versprechende, geplante Bebauung der Köllnischen Heide, die auf die Bedürfnisse bürgerlicher Familien zugeschnitten war. Die seien vorher nicht in das Unterschichtquartier gezogen, erzählt Holsten, denn Rixdorfer war nicht nur ein Synonym für den Schiebertanz, sondern für „Prolet, Krimineller oder Sozialdemokrat“. Eine Ironie der Geschichte, wo doch 100 Jahre später Neuköllner fast ein Synonym für Hartz-IV-Empfänger oder Migrant ist.
1912 hat sich übrigens ganz Deutschland über die seinerzeit extrem ungewöhnliche Umbenennung einer Stadt amüsiert. Witzblätter und Karikaturisten im ganzen Reich bis hin nach England warfen sich auf die Lachnummer. Fabrikanten fürchteten in Protestbriefen etwa um den Ruf ihres „Rixdorfer Linoleums“.
So ein Etikettenschwindel wie der vor 100 Jahren bringe heute für Neukölln gar nichts, sagt Stadträtin Giffey, die beim Schauspiel im Rathaus Neukölln die deftige Frau aus dem Volke mimt. Allein die Kosten für eine Rückbenennung in Rixdorf seien astronomisch. Wie Henning Holsten weiß, hatte Anfang der 2000er Jahre, als der Bezirksruf völlig darnieder lag, der eine oder andere Politiker mal so eine Rolle rückwärts erwogen. Giffey zuckt die Achseln.Heute fordere das niemand mehr. „Neukölln ist auch eine positive Marke in Deutschland geworden.“
Das ist ja ganz Reinhold Steinles Rede. Seine nicht durchgängig ernst gemeinte, aber umfängliche Wanderung durch 100 Jahre Neukölln und mehrere hundert Jahre Rixdorf, das 1360 als Richardsdorp von Tempelrittern hier am Richardplatz gegründet wurde, zeigt hinter Mietskasernen und Klischees versteckte Dorfidylle und Bürgerpracht in den Straßenzügen zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee.
Der Name sei übrigens heftig im Kommen, sagt er. Alle jungen Neuzuzügler sprächen von Rixdorf statt Neukölln. Also doch wieder umbenennen? Ja, nickt Steinle, da sei er voll dafür. „Und alle 100 Jahre wechseln, so will’s die Tradition“.
Ausstellung im Rathaus Neukölln, Karl-Marx-Straße 83, bis 24. Februar, Montag bis Freitag 8 bis 20 Uhr, Eintritt frei
Gunda Bartels