Marsch auf Washington 1963: Mehr Demonstrationsfreiheit wagen
Vor 52 Jahren demonstrierten in der US-Hauptstadt 200.000 Afroamerikaner für ihre Bürgerrechte. Der Tagesspiegel würdigte den friedlichen Massenprotest als Vorbild für Kundgebungen gegen den Mauerbau in West-Berlin.
Es ist ein besonderes Zeitdokument, der Leitartikel des Tagesspiegel zur Massenkundgebung der schwarzen Bürgerrechtsbewegung am 28. August 1963 in Washington. In West-Berlin war es kurz zuvor bei Demonstrationen zum zweiten Jahrestag des Mauerbaus zu gewalttätigen Ausschreitungen gekommen. Im Vorfeld hatte der Senat unter Willy Brandt Kundgebungen mit Hinweis auf die angespannte Sicherheitslage in der geteilten Stadt untersagt. Der Autor kritisiert diese Haltung: Das Beispiel des friedlichen Protests in Washington zeige, dass die uneingeschränkte Demonstrationsfreiheit das beste Mittel ist, um Gewalt zu verhindern. In dem Meinungsbeitrag, den wir im Wortlaut dokumentieren, ist vom "Neger" die Rede, heute zu Recht ein Unwort. Joachim Bölke verwendet den Begriff nicht in rassistischer Absicht, wie dem Kontext klar zu entnehmen ist. Auch Martin Luther King, der bei der Großdemonstration seine legendäre Rede "I have a dream" hielt, wurde damals in der deutschen Presse häufig als "Negerführer" bezeichnet. Martin Luther King sprach damals selbst vom "negro".
Der Protestmarsch nach Washington für die Gleichberechtigung der Farbigen, von manchen gefürchtet, von anderen herbeigewünscht, ist zu einem Höhepunkt in der Geschichte des Kampfes gegen die Rassendiskriminierung geworden. Was an dieser Kundgebung der 200.000 so ungeheuer beeindruckte, war die Diszipliniertheit und Besonnenheit der Demonstranten, die so gar nicht in das Klischee vom Neger paßte, das in vielen weißen Hirnen geprägt ist. Natürlich hat auch die Tätigkeit der "Schwarzen Moslems", jener radikalen Gruppe, die den weißen Rassismus mit einem schwarzen Rassismus beantwortet und die jeder Verständigung mit den Weißen abgeschworen hat, das Bild der Situation verfälscht - genau wie auf der anderen Seite die Gewalttaten der weißen Rassisten die Tatsache überschatteten, daß sehr viele demokratisch denkende Amerikaner durchaus für die Forderungen der Neger zu haben sind. Viele von ihnen nahmen an der Demonstration teil. Die Regierung, die diesen Protestmarsch zunächst mit Unbehagen sah, weil sie Ausschreitungen befürchtete, hat sich klugerweise nicht auf den Verbotsweg begeben, sondern an die Spitze der Bewegung gestellt.
Die US-Regierung unterstützt die Bürgerrechtsbewegung
In dieser Situation zogen es die Radikalinskis vor, gar nicht erst zu erscheinen, weil diese Art von Demonstration nicht nach ihrem Geschmack war. Gewalttätigkeiten und Krawalle wurden nicht durch das große Polizeiaufgebot, sondern durch die Vernunft der Beteiligten vermieden. Man hatte ihnen klargemacht, daß solche Ausschreitungen ihrer Sache schaden und auch die Gutwilligen unter den Weißen zurückstoßen würden. So gelang das Wagnis, Hunderttausende von Farbigen in der amerikanischen Hauptstadt zusammenzurufen. Die Situation geriet nicht außer Kontrolle - obwohl man in dieser mit "Explosivstoff" geladenen Rassenfrage der ungeduldigen Menge keine sofortigen Ergebnisse präsentieren konnte.
Die Amerikaner vertrauen der Menge, in Berlin herrscht das Misstrauen
Die Frage liegt nahe, ob das, was unter Farbigen möglich ist, nicht auch unter Weißen, genauer gesagt unter Berlinern, möglich sein sollte. Wir meinen den Tag des 13. August, dessen emotionaler Sprengwirkung man bei uns zum zweiten Male mit der Aufforderung an die Berliner begegnete, ihre Empörung über die Verletzung der Menschenrechte im stillen Kämmerlein mit dem Schreiben von Briefen an Freunde und Verwandte in der Sowjetzone abzureagieren. In Konsequenz führte dies bisher jedesmal dazu, daß die Besonnenen, wenn auch unwillig, zu Hause blieben, während Hitzköpfe und Jugendliche auf die Straße gingen, um auf ihre Weise gegen die Mauer zu demonstrieren. Gerechterweise muß man hier sagen, daß auch sogenannte Halbstarke selten für einen besseren Zweck auf die Straße gegangen sind. Dennoch bleibt festzustellen: Die Amerikaner haben an die Loyalität der Demonstranten appelliert und damit die Randalierer vertrieben, in Berlin hat man die Besonnenen bewogen, zu Hause zu bleiben und damit den Randalierern die Straße freigemacht. Die Ursache für dieses Verhalten war in Washington demokratisches Vertrauen in das Verantwortungsbewußtsein der Menge - in Berlin Mißtrauen und geheime Angst, wenige Unbesonnene könnten die Menge mit sich fortreißen.
Noch beim Besuch Kennedys hat sich aber gezeigt, daß der Appell an die Besonnenheit und Vernunft der Hunderttausende auch in Berlin ankommt, wenn man diesen Appell nur wagt. Es war einer der eindrucksvollsten Momente, als Berlins Regierender Bürgermeister die von Begeisterungsstürmen durchtobte Menge ausgerechnet zu einer Schweigeminute aufforderte und sich plötzlich Totenstille über das weite Rund des Rudolph-Wilde-Platzes legte. In Zukunft sollte man dem Protest der Berliner Gelegenheit geben, sich in würdiger Form zu manifestieren, wenn er nun einmal zu Recht erhoben wird. Ein gleichzeitiger Appell an das Verantwortungsbewußtsein dürfte wohl dazu führen, daß die wenigen Randalierer von den anderen zur Vernunft gebracht würden. Den Rest mag man getrost der Polizei überlassen: Die Berliner haben wirklich etwas mehr Vertrauen verdient.
Der Beitrag erschien als Leitartikel in der Tagesspiegel-Ausgabe vom 31. August 1963. Der Autor Joachim Bölke war Verantwortlicher Redakteur und von 1984 bis 1990 Mitglied der Chefredaktion dieser Zeitung. Einen Artikel zum Berlin-Besuch Martin Luther Kings im September 1964 lesen Sie hier.
Joachim Bölke