Markthalle Neun in Berlin: „Erst muss der Aldi weg – dann werden wir verdrängt“
In der Markthalle Neun in Kreuzberg soll es „gutes Essen für alle“ geben. Nun wird der Aldi durch einen DM ersetzt. Anwohner sind wütend.
Hatice A. steht vor einem Maultaschen-Imbiss in der Markthalle Neun in Kreuzberg. Nein, hier habe sie noch nie gegessen. „Ist sicher lecker, aber ich kann mir das nicht leisten“, sagt die 44-Jährige mit fünf Kindern. Sie ist hier im Kiez aufgewachsen und geht einmal wöchentlich in den Aldi-Markt in der Markthalle. Früher, da habe man sich hier auch in der Halle unterhalten und getroffen. Doch sie fühle sich neuerdings nicht mehr wohl hier. Seitdem die ganzen Stände mit exquisitem Essen hier seien, habe sich das Publikum geändert und man würde sie verächtlich anschauen. „Es ist, als sei ich fremd hier.“
Und nun soll auch noch der Aldi weg und durch einen Drogeriemarkt der Kette DM ersetzt werden. Hatice A. macht das wütend. Der nächste Lidl ist rund 10 Minuten Fußweg entfernt. „Ich möchte aber zu Aldi in der Markhalle, der Discounter gehörte immer schon dorthin“, sagt sie und geht ins "Café People" auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Das sind so kleine Schritte, so fängt es an mit der Verdrängung. Bald klingeln sie bei mir und sagen, ich muss weg. Erst der Aldi und dann ich.“ Der Aldi ist das einzige Angebot im niedrigen Preissegment, auch andere Anwohner sind sauer über den bevorstehenden Verlust.
Ein blödes Thema, denn auf einmal ist die "gute Wirtschaft", die nachhaltige, die böse, weil die Ärmeren sie sich nicht leisten können. Das Problem liegt aber woanders: In den Niedriglöhnen und den überhöhten Mieten.
schreibt NutzerIn Stefano1
„Sonst gibt es da nur so Sachen wie ein Stück Pizza, so groß wie mein Handy und es kostet vier Euro.“ Hatice schüttelt den Kopf. Hier im Café People sitzen ihre Leute, man kennt sich. Direkt neben der Halle hat ein neues Café aufgemacht, die Getränke kosten das Doppelte. Hinter den großen Fensterscheiben sitzen zwei Frauen an Apple-Laptops. „Da trinken die Kaffee, die denken, dass sie besser gebildet sind“, sagt Hatice.
"Gutes Essen für Alle"?
Eigentlich ist das Motto der Markthalle Neun „Halle für Alle“. Auf einem großen Banner steht „gutes Essen für alle.“ Doch wenn der Aldi weg ist, wüsste Hatice nicht mehr, was sie dort sollte. Der Vorwurf an die Betreiber lautet, dass sie absichtlich ärmere Kundschaft herausdrängen und durch zahlungskräftigeres Publikum ersetzen möchten.
"Wir verstehen, dass es für den einen oder anderen eine Umstellung bedeutet", sagt Nikolaus Driessen, einer der Hallen-Betreiber. "Es wird oft übersehen, dass die Preise der Discounter zu Lasten anderer so günstig sind. Unsere Solidarität gilt hier den Bauern, Metzgern und Bäckern, die durch die Lebensmittelindustrie existenziell bedroht sind." Ziel sei es, machbare Alternativen zu einer industriellen Landwirtschaft und einem von wenigen Handelsriesen dominierten Lebensmittelmarkt aufzuzeigen. Aldi werde man eine Abstandszahlung zukommen lassen.
Zwar sei auch DM ein großes Unternehmen, die Philosophie passe aber besser zur Markthalle Neun. Dazu gehöre die Unterstützung fairer Produzenten, und das Engagement des DM-Gründers Götz Werner für ein faires Miteinander und die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens. Außerdem habe es Nachfragen gegeben, in der Halle sollen auch Produkte wie Babynahrung und Putzmittel angeboten werden. Zudem gebe es weit und breit keinen Drogeriemarkt, da sei der DM in Kombination mit dem Lebensmittelangebot der Stände in der Halle einfach das attraktivere Sortiment und werde insbesondere unter der Woche das Geschäft für die kleinen Händler beleben.
Keine Tiefkühlpizza mehr
Fertig- und Tiefkühlprodukte wolle man hingegen nicht mehr anbieten. In der Markthalle sind ansonsten zahlreiche Stände mit Feinkost und regionalen Produkten zu finden, eher etwas teurer - dafür Bio und Fairtrade. Ein italienischer Bäcker, Fleischfachbetriebe, Weinhandlungen.
Die Markthalle wird sich auch weiter massiv verändern und könnte zu einem "House of Food" anwachsen. Driessen prüft derzeit die baulichen Voraussetzungen für das Projekt des Senats und der Ernährungsberatung. Eine nachhalte Ernährungspolitik soll umgesetzt werden, wofür 700.000 Euro vom Land Berlin bereitgestellt wurden. Der Anteil an Bio-Produkten soll kostenneutral erhöht werden.
Vorbild: „House of Food“ in Kopenhagen
Das "House of Food“ steht eigentlich in Kopenhagen. Es ist eine Bildungseinrichtung für Kantinenköche aus der Gemeinschaftsverpflegung. "So haben unsere Nachbarn in Dänemark es geschafft, in den letzten beiden Jahrzehnten den Bio-Anteil in Krankenhäusern, Schulen und Kindergärten auf über 90 Prozent zu erhöhen - ohne nennenswert mehr Budget für den Einkauf der eingesetzten Lebensmittel einzusetzen. Eine kleine Sensation!", meint Driessen.
Das hat sich die Berliner Koalition zum Vorbild genommen und will das Modell für Berlin adaptieren. Ernährungspolitisch sei das sicherlich zur Zeit das spannendste Projekt in Deutschland, findet Driessen. Wer das Konzept in Berlin umsetzt, steht noch nicht fest. "Wäre aber schön, wenn es uns gelänge das Projekt nach Kreuzberg zu holen, weil es letztlich die Antwort auf Aldi ist: Gutes Essen für Alle."
Matcha statt Latte Macchiato
Die Markthallen-Betreiber bekommen, laut eigener Aussage, böse Zuschriften. Die Betreiber wehren sich gegen Vorwürfe, sie würden Leute verdrängen wollen. Man möchte dort eben Bioqualität anbieten. Wer anders einkaufen wolle, finde in der Nachbarschaft noch genügend Discounter.
Und hier ein Vergleich der Betreiber: "Die Laugenbrezeln bei Aldi kosten 0,29 Euro. Die Bio-Brezeln bei Endorphina 1,49 Euro – diese werden in Handarbeit in Neukölln hergestellt. Wir halten es für fair, dass von dem Preis einer Brezel der Bäcker, der Müller und der Landwirt leben müssen. Geht das bei 0,29 Euro?" Hatice findet, auch Aldi biete Bio-Produkte an. Und es gehe zudem nicht darum, sich einmal eine Laugenbrezel leisten zu können, sondern darum, die Familie zu ernähren – und das jeden Tag. Auch das Obst und Gemüse der Händlerstände in der Halle seien da nicht günstig genug.
Auch Bekir C. wohnt seit zehn Jahren in der Nähe der Markthalle und geht zum Aldi, den es dort schon seit 1977 gibt. Schon die Eltern von seiner Frau hätten dort eingekauft. Im Café People trinkt er „Cortado“, was auch neu für ihn sei, früher habe er hier auch einfach immer „Kaffee“ bestellt. Er hat sich über die Veränderungen im Kiez auch mit Timur Husein unterhalten, Kreisvorsitzender der CDU Friedrichshain-Kreuzberg. Dieser möchte im Café People einen Latte Macchiato bestellen, den gibt es hier aber neuerdings nur mit Matcha – zu Pulver gemahlener Grüntee.
Bekir und der Politiker diskutieren darüber, was Matcha genau sei, Husein probiert – bestellt dann aber doch lieber einen türkischen Schwarztee. „Die Leute hier sind teilweise auf den Aldi angewiesen“, sagt er. „Menschen, die sich nicht so viel leisten können, hadern mit der Veränderung hier im Kiez.“ Aldi sei ein Teil der Daseinsvorsorge für diese Leute und sollte erhalten bleiben. Sicherlich schaffe die Gentrifizierung auch Arbeitsplätze, aber das sollte nicht auf Kosten der Anwohner gehen.
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