„Ende Gelände“ und Linksextremismus: Linke und Grüne in Berlin sprechen von Abschaffung des Verfassungsschutzes
Der Verfassungsschutz hält die Berliner Filiale von „Ende Gelände“ für linksextrem beeinflusst. In der rot-rot-grünen Koalition gibt es deshalb Ärger.
Knatsch in der rot-rot-grünen Koalition in Berlin: Grüne und Linke kritisieren, dass der Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht 2019 im Kapitel zu Linksextremismus erstmals den Berliner Ableger der Kampagne „Ende Gelände“ erwähnt, die massiv gegen den Braunkohleabbau protestiert.
„Wir haben da Fragen als Grüne, ob das richtig ist, die Klimabewegung zu Staatsfeinden zu erklären“, sagte Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) am Dienstag dem Tagesspiegel. Er könne bisher nicht erkennen, „dass das Staatsfeinde sind, die sich da organisieren“. Aber vielleicht habe der Berliner Verfassungsschutz „Erkenntnisse, die wir nicht haben“.
Behrendt kündigte an, in der Sitzung des Senats das Thema zur Sprache zu bringen. Auch Kultursenator Klaus Lederer (Linke) will Innensenator Andreas Geisel (SPD) Fragen stellen.
Im Anschluss an die Senatssitzung verteidigte Geisel die Erwähnung von "Ende Gelände" in dem Bericht. "Nicht jeder, der sich öffentlich zu 'Ende Gelände' und dem Verfassungsschutzschutzbericht 2019 geäußert hat, hat ihn auch schon gelesen", sagte Geisel. Tatsächlich habe der Verfassungsschutz in dem Fall "sorgfältig differenziert", betonte der Innensenator.
"Es gibt Bemühungen im linksextremistischen Spektrum, Anschluss an gesellschaftliche Bewegungen zu finden", sagte Geisel. Nach dem G20-Gipfel in Hamburg sei die linksextreme Szene wegen des Ausmaßes an Gewalt gesellschaftlich isoliert gewesen. Gleiches gelte zum Beispiel auch für die Szene in der Rigaer Straße. Deshalb gebe es Versuche von Linksextremisten, Einfluss zu nehmen auf Bewegungen wie die Klimaschützer. Das heiße aber nicht, dass jede Gruppierung, die bei "Ende Gelände" mitlaufe, als linksextremistisch gelte.
Berliner Grünen-Chef: Kohle-Protest "keine Gefahr für die Verfassung"
Scharfe Kritik am Verfassungsschutz übte der Berliner Grünen-Vorsitzende Werner Graf. „Blockaden für den Kohleausstieg sind radikale Protestaktionen, aber keine Gefahr für die Verfassung“, teilte er mit. Wer für den Kohleausstieg kämpfe, rette vielmehr den Planeten.
Graf warf dem Berliner Verfassungsschutz vor, rechtsextremistische Gewalt zu verharmlosen. „Der Verfassungsschutz muss endlich lernen sein rechtes Auge aufzubekommen“, sagte er und verwies auf die Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen, wo der „Mob aus Reichsbürgern und Querfrontlern“ derzeit „bedrohliche Ausmaße“ annehme. „Dass der Verfassungsschutz trotzdem penibelst darauf bedacht ist, die Gefahr von links und rechts als gleich darzustellen, stellt seine Existenz immer mehr in Frage“, urteilte Graf. „Denn Reichsbürger nicht als rechtsextrem, aber Ende Gelände als linksextrem einzustufen, ist ein Armutszeugnis und nicht hinnehmbar.“
Innenpolitiker der Linken: Verfassungsschutz "abschaffen!"
"Absurd" nannte der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Niklas Schrader, die Entscheidung des Verfassungsschutzes. "Das ist geeignet zur Diskreditierung und Kriminalisierung der Klimaschutzbewegung." Grund der Erwähnung im Bericht seien die Verknüpfung mit den Bereichen "Anti-Kapitalismus" und "Anti-Faschismus", schrieb Schrader bei Twitter. Allerdings werde eine "Befürwortung von Gewalt" nur unterstelle und nicht durch Belege gestützt.
Schrader kritisierte, dass der Verfassungsschutz "Ende Gelände" sogar abspreche, dass es dem Bündnis in erster Linie um Klimaschutz gehe. Es "geriert" sich lediglich in der Außendarstellung als Klimaschutzakteur. "Klar, der Feind steht links, auch wenn er den Planeten retten will", ätzte Schrader. Auch die Beteiligung der "Interventionistischen Linken" (IL) in dem breiten Bündnis wollte Schrader nicht als Grund für die Einordnung akzeptieren. "Meine Güte, die IL ist links, ja, aber eine Gefahr für die Verfassungsordnung!?", fragte der Linken-Politiker.
"Leute, lasst euch nicht beirren, seid weiter für Klimaschutz aktiv und lasst euch nicht davon abhalten, auch die Frage nach der Wirtschaftsordnung zu stellen", appellierte Schrader an die Aktivisten von "Ende Gelände." Ähnlich wie Graf schob er in einem Postskriptum nach: "VS abschaffen!"
Hambacher Forst und Lausitz: "Ende Gelände" existiert bundesweit seit 2015
Aktivisten aus den Gruppierungen gegen Atomkraft und gegen Energiegewinnung aus Kohle taten sich 2015 bundesweit zur Kampagne Ende Gelände zusammen. Die Bewegung hat mehrmals mit spektakulären Aktionen Aufmerksamkeit erregt. Protestierer besetzten Tagebaue und Kraftwerke in den Braunkohlerevieren im Rheinland und in der Lausitz.
Ende Gelände ist auch maßgeblich an der Besetzung des Hambacher Forsts (Rheinland) beteiligt, den der Energiekonzern RWE zugunsten eines nahen Tagebaus roden will. Bei den Protesten kam es zu schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei.
Bundesamt für Verfassungsschutz warnt vor der "Interventionistischen Linken"
Der Berliner Verfassungsschutz ist nicht der einzige, der vor einer linksextremen Beeinflussung von Ende Gelände warnt. Die Gruppierung „Interventionistische Linke (IL)“ habe bei den Protesten gegen den Braunkohleabbau „eine strategisch führende Position“, schrieb das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) im Jahresbericht 2018.
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Der IL diene das Aktionsbündnis Ende Gelände „als Vehikel zur Umsetzung ihrer linksextremistischen Ziele“. Zitiert wird aus einer IL-Broschüre das Bekenntnis, „wir sind stolz auf die Aktionen und die aktive Störung der fossilen kapitalistischen Infrastruktur“.
Vernetzung auch ins nicht-extremistische Lager hinein
Nach Erkenntnissen des BfV versuchten die rund 1000 Mitglieder der IL „durch eine überregionale Organisierung einen möglichst großen Teil des autonomen Linksextremismus zu bündeln und lokale Aktivitäten in einen bundesweiten Zusammenhang zu bringen“.
Die IL bekenne sich nicht eindeutig zu einer traditionellen kommunistischen Lehre, sondern verfolge einen kampagnenorientierten Ansatz. „Diese ideologische Unverbindlichkeit ermöglicht es der IL, sich weit bis in dogmatische, aber auch in gemäßigte und nicht extremistische Lager hinein zu vernetzen“, berichtete das BfV.
Radikalisierung von Akteuren als Ziel
Auch der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen betonte in seinem Jahresbericht, „erneut wurden im Jahr 2018 im Rahmen der 'Ende Gelände'-Großaktionen Straftaten begangen“. Hierzu zählten Hausfriedensbrüche im Tagebau und Kraftwerksblockaden mit gravierenden wirtschaftlichen Folgen. Derartige Aktionen würden von den Beteiligten als Aktionsformen des „zivilen Ungehorsams“ propagiert und damit für die jeweiligen Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermeintlich gerechtfertigt.
„Die von der Interventionistischen Linken verfolgten Ziele, bürgerlich-demokratisches Protestpotenzial für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, die Grenzen zwischen extremistischem und demokratischem Protest zu verwischen und sich als Teil einer legitimen Protestbewegung zu inszenieren, sind insofern erneut aufgegangen“, sagte der Nachrichtendienst. Als ein Ergebnis der massenhaften Mobilisierung bürgerlicher Klimaschützer im Anschluss an die Baumhausräumungen im Hambacher Forst sei es gelungen, „viele dieser Akteure zu radikalisieren und zu rechtswidrigen Taten zu verleiten“.
Zulauf für linksextremes Spektrum in Berlin
In Berlin hat die „Interventionistische Linke“ nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes etwa 290 Mitglieder. Dem linksextremen Spektrum insgesamt werden 3400 Personen zugerechnet. Das sind 260 mehr als 2018. Bei den gewaltbereiten Linksextremisten gab es einen kleinen Zuwachs auf 980 Personen. Die rechtsextreme Szene blieb stabil. Der Nachrichtendienst spricht von 1420 Personen, die Hälfte gilt als gewaltorientiert. Die AfD taucht im Bericht nicht auf. Der Berliner Verfassungsschutz hatte die innerparteilichen Vereinigungen „Der Flügel“ und „Junge Alternative“ 2019 als Verdachtsfall eingestuft, darf aber aus rechtlichen Gründen darüber nicht berichten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln hat im März 2020 den "Flügel" als gesichert rechtsextremistische Bestrebung bewertet und damit vom Verdachtsfall zum klassischen Beobachtungsobjekt hochgestuft. Der Berliner Verfassungsschutz hat zum "Flügel" bislang keine neue Bewertung mitgeteilt.
Salafistenszene wächst weiter
Die Zahl der Islamisten in Berlin ist um 175 auf auf 2170 gestiegen. Den größten Anteil haben die Salafisten (2019: 1140, 2018: 1020). Die kurdische Separatistenorganisation PKK blieb mit unverändert 1120 Mitglieder relativ stark. Ihnen stehen 400 türkische Rechtsextreme gegenüber.
Der Verfassungsschutz geht im Jahresbericht auch auf Hate Speech von Rechtsextremisten, Linksextremisten und Islamisten ein. Das Internet werde „spektrenübergreifend“ von Verfassungsfeinden intensiv genutzt. Es gehe darum, Personen herabzuwürdigen, zu beleidigen, einzuschüchtern und zu bedrohen. Betont wird, die gezielte Meinungs- und Stimmungsmache von Rechtsextremisten gehe mittlerweile "weit über persönliche Beleidigungen und Bedrohungen hinaus".
Warnung vor Hate Speech von Extremisten
Durch Kampagnen, bei denen massenhaft Kommentare und "likes" vergeben werden, solle die Meinungshoheit über bestimmte Themen gewonnen werden. Rechtsextremistische Positionen sollten "anschlussfähig für breite gesellschaftliche Schichten werden". Als Beispiele nennt der Verfassungsschutz Themen wie Migrationspolitik und Kriminalitätsbelastung.