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Harter Kampf. Kneipen wie das Aller-Eck im Schillerkiez, hier im Jahr 2013, haben es nicht immer leicht.
© Mike Wolff

Kneipensterben in Berlin: Letzte Runde

Immer seltener ist die Berliner Eckkneipe, was sie mal war: ein Ort für jedermann. Schade eigentlich. Ein paar nüchterne Gedanken zur Kneipenkrise.

Im Osten Frankreichs, in einem kleinen Minenstädtchen südlich von Lyon, betrieb meine Großmutter ein Bistro. Meist waren eine Handvoll Gäste da, vom Frühstück übrig oder schon für den Aperitif, je nach Uhrzeit. Manche spielten im Hinterzimmer am Baby-Foot, dem Tischkicker, andere saßen am Tresen bei Kaffee oder Wein oder ließen sich von einem der Lokalpolitiker bequatschen, die im Bistro ihre Sprechstunden abhielten. Um fünf Uhr, wenn in der Mine Schichtwechsel war, wurde es voll. Auch noch später, als die Mine schon lange geschlossen war, war um fünf Stoßzeit. Das Bistro war das gesellschaftliche Zentrum des kleinen Ortes. Ein Lokal für Gemeinschaft, für Austausch und Information, Freizeit und Feierabend.

Als ich später kurze Zeit in Paris lebte, waren es Bistros, die meinen Tag strukturierten. Ich frühstückte im Bistro, saß abends mit einem Buch darin, traf mich mit Kollegen oder Freunden. Manchmal arbeitete ich in einem Bistro. Wenn ich ein Bistro betrat, fühlte ich mich gleich zugehörig.

„Das Bistro ist der Ort einer Vermischung der Gattungen, von Tragödie und Komödie, der nichtssagenden Worte und des vielsagenden Schweigens, des lauten Lachens, des unterdrückten Seufzers und der diffusen Melancholie“, beschreibt der Ethnologe Marc Augé dieses Gefühl in seinem Band „Das Pariser Bistro“, der 2016 im Berliner Verlag Matthes & Seitz auf Deutsch erschien. Der 81-Jährige erinnert sich darin an seine Zeit mit Jean-Paul Sartre in den Bistros des Quartier Latin. Er berichtet von Abenden, an denen er als Student mit Professoren diskutierte und später als Professor mit Studenten. Er beschreibt die Kellnerin im Bistro unter seiner Wohnung, seziert ihre Choreografie rund um das „Nervenzentrum“ Tresen, der, wie Augé es ausdrückt, niemandem gehört und jedem einen Platz bietet. Man muss nicht in einem Bistro gewesen sein, um „das Bistro“ zu kennen, schreibt Augé. Es ist eine Art immaterieller Kulturort, dessen Nennung auch außerhalb Frankreichs klar umgrenzte Vorstellungen hervorruft.

Seitdem ich in Berlin wohne, frage ich mich manchmal, ob es hier so einen Ort gibt. Und wenn ja, wo. Einen Ort für Jung, Alt, früh, spät, oben, unten. Ich habe mir Sachbücher und Bildbände aus den vergangenen drei Jahrzehnten bestellt. Über Gastronomie in Berlin, vor allem über die Berliner Eckkneipe. Weil ich darin diesen Ort vermutete. Das Erste, was ich gelernt habe: Die Eckkneipe muss nicht an einer Ecke sein. Das Zweite: Ich bin mir nicht sicher, ob sie das ist, was ich suche.

Manchmal wird die Kneipe durchgelüftet, ins Treppenhaus

Die „Kneipe“, das ist eigentlich ein Ort für einen studentischen Umtrunk. Seit dem 18. Jahrhundert wird das Wort für Bierschänken verwendet. Später auch für Weinstuben, für Lokale mit und ohne Küche, größere und kleinere Etablissements. 1831 schrieb C. B. von Ragotzsky in seinem studentischen Wörterbuch „Der flotte Bursch“: „Kneipe wird im Allgemeinen jedes Wirtshaus genannt.“ Was die so subsumierten Lokalitäten verband, war ihr Zweck: „Knipen“ heißt im Mittelhochdeutschen so viel wie „enges Zusammensein“.

Im „Spiegel“ stand 1975: „Der Mensch im Wirtshaus lebt nicht vom Bier allein.“ Und weiter: Eine Untersuchung der „Gesellschaft für Marktforschung“ habe ergeben, dass Gaststätten zu fast 70 Prozent „aus sozialen Motiven“ aufgesucht würden – vor allem, „weil ich mal in anderer Umgebung sein möchte“, „um Freunde und Bekannte zu treffen“ und, nicht zuletzt, „weil ich dort meinen Stammtisch habe“. Ein Wohnzimmer im Öffentlichen also, wo vor dem Wirt alle gleich sind.

Im Erdgeschoss des Berliner Hauses, in dem ich wohne, ist eine Eckkneipe. Würde ich mich in meinem Schlafzimmer auf den Boden legen, die Ohren ans Parkett, könnte ich direkt in die Unterhaltungen lauschen. Mittwochs ist Livemusik, da höre ich die Kneipe, selbst wenn ich es nicht will. Manchmal wird die Kneipe durchgelüftet, ins Treppenhaus, dann rieche ich sie. Und manchmal, wenn ich morgens aus dem Haus gehe und in Erbrochenes trete, verfluche ich die Kneipe.

Ich betrete sie selten. Wenn ich reingehe, bleibe ich meist nur kurz. Einmal aber kam ich früh und blieb lang. So lang, dass ich das erste Mal den Schichtwechsel beobachtete. Zwischen denen, die hier schon immer waren. Und denen, die jetzt auch manchmal da sind.

Um 21 Uhr beginnt der Schichtwechsel

Am Tresen rechts neben mir saß ein Mann, Ende 40, braune, lichte Haare, beiger Mantel. Vor ihm: ein Collegeblock, eine Tageszeitung, ein Taschenrechner. Der Mann tippte Zahlen in das Gerät, murmelte, tippte, notierte und murmelte „hmjaa“. Ab und zu nahm er einen Schluck aus seinem Wasserglas. Links von mir saßen ältere Herrschaften mit halbleeren Bieren. Einer presste in Intervallen seine Lippen zusammen, murmelte manchmal und nickte viel. Ein anderer ruhte sich auf seinen verschränkten Armen aus, die wiederum auf seinem runden Bauch abgelegt waren. Hinter ihnen saßen ein paar Männer mit Glatzen und Frauen mit Dauerwellen und tiefen Augenringen. Immer wieder tönte von dort ein kehliges, rasselndes Lachen durch den Raum. Und wenn das Lachen endete, begann das Husten.

Immer, wenn die schwere braune Eingangstür ins Schloss fiel, wurde es kurz still, die Leute im Gastraum beobachteten die Neuankömmlinge und umgekehrt. Dann konzentrierte sich jeder wieder auf das Seine.

Um 21 Uhr aber begann der Schichtwechsel. Die Tür öffnete sich in kürzeren Abständen. Die Menschen, die den Raum betraten, schienen jedes Mal jünger und aufgedrehter. Und die, die ihn verließen, blieben alt. Wenn junge Frauen durch die Tür kamen, richteten sich die Alten auf ihren Hockern auf, drückten den Rücken durch und zogen ihre schlaffen Hemdkrägen zurecht. Wenn junge Männer mit gestylten Haaren reinkamen, höhnten die Alten ein bisschen und wandten sich wieder ihren Gläsern zu.

Diener Tattersaal, an der Wand kunstvolle Boxer-Zeichnungen, einfache Küche. George Grosz, Ernst Deutsch und Hans Albers sollen hier verkehrt haben wie zahllose Künstler-Größen, die gnädig von der Wand in die Gegenwart gucken.
Diener Tattersaal, an der Wand kunstvolle Boxer-Zeichnungen, einfache Küche. George Grosz, Ernst Deutsch und Hans Albers sollen hier verkehrt haben wie zahllose Künstler-Größen, die gnädig von der Wand in die Gegenwart gucken.
© Imago Stock

Die Bedienung sprang immer hektischer zwischen den Tresenenden hin und her, die Alten tranken immer zögerlicher. Und wenn ein Alter seinen Hocker aufgab, legten die Jungen ihre Jacken drauf und stellten sich drumrum. Der Raum war lauter, voller, stickiger geworden. Und lebendiger.

Ich ging um kurz nach Mitternacht. Die älteste Person im Raum war zu diesem Zeitpunkt die Enddreißigerin hinter dem Tresen.

Vielleicht betrete ich die Kneipe in meinem Haus nur selten, weil sie mir zu nah ist. Regelmäßig lande ich aber an vergleichbaren Orten. Kneipen, die diesen ähnlichen Aufbau haben. Hölzerner Tresen, Wanddekor mit den Hügeln deutscher Lande, röhrende Hirsche und Wagenräder. Emailleschilder mit historischer Trinkbestärkung, wo Biere als „frisch und würzig“ oder „bekömmlich und gehaltvoll“ beworben werden. Handgeschnitzte Bierkrüge auf der Holzverkleidung über dem Tresen. Lustige Sprüche wie „Hopfen und Malz erleichtern die Balz“. Die alten Herren, die blondgefärbten Haare der Bedienung.

Ist das das Berliner Pendant zum Ort der Gemeinsamkeit, den Augé im Pariser Bistro findet? Immerhin: Als Oberbegriff für einen Ort, von dem jeder eine Vorstellung hat, scheint die Kneipe so gut zu taugen wie das Bistro.

Kaum gefunden, schon bedroht

Auch, was die Allgegenwart des Lebens am Ort und des Ortes im Leben angeht, scheint es die Kneipe mit dem Bistro nach Ansicht ihrer Apologeten aufnehmen zu können: Die Eckkneipe sei geprägt von „Einsamkeit und Geselligkeit, Heimat und Heimatlosigkeit, Gelassenheit und Ruhelosigkeit“, schreibt der Schriftsteller Clemens Füsers. Für seinen Band „Berliner Jahrhundertkneipen“, 2011 im Lehmstedt-Verlag erschienen, besuchte Füsers mit der Fotografin Gudrun Olthoff einige der ältesten noch laufenden Kneipen Berlins, darunter das Diener Tattersall in Charlottenburg, die Alte Kolkschenke in Spandau, das Leydicke in Schöneberg. Für ein anderes Buch, „Letzte Runde?“ aus dem Jahr 2009 (erschienen im Wasmuth-Verlag), haben sie eine „stadtgeschichtliche Bestandsaufnahme“ traditioneller Berliner Eckkneipen gemacht. Wer sich so sehr mit der Überlieferung beschäftigt, dem entgeht auch nicht, wenn sie abreißt – und zwar am ehesten dort, wo die Stadt einem schnellen Wandel unterliegt: Während seiner Recherche, schreibt Füsers, habe er in Mitte eine einzige alte Eckkneipe gefunden, im Prenzlauer Berg „zwei oder drei“.

Vor 150 Jahren war Berlin noch die Stadt mit der höchsten Kneipendichte Europas. Im Jahr 1806 verzeichnete das „Lexicon von Berlin“ 155 000 Einwohner und 700 Schenken im Sinne von Gastronomiebetrieben, deren Umsatz primär aus dem Ausschank kam – 221 Einwohner pro Schenke also. 1905 kamen sogar nur noch 157 Einwohner auf eine Schenke, wie es im 1989 von Theodor Constantin veröffentlichten Band „Alt-Berliner Kneipen“ heißt. 1980 waren es, glaubt man einem Ausstellungskatalog über Berlins Kneipen, 364 Einwohner pro Schenke. Heute soll es laut „visitBerlin“ rund 900 klassische Kneipen für 3,6 Millionen Berliner geben, also nur noch eine pro 4000 Einwohner. So schwierig der Abgleich dieser Zahlen ist, der Abwärtstrend ist unabweisbar: Seit 2008, sagen die Hotellerieverbände, sei die Zahl der Kneipen in Deutschland von 38 549 auf 31 650 gesunken. 18 Prozent minus. 6899 Kneipenleichen.

Die Leute gehen eben woanders hin

Dem grassierenden Kneipensterben offenbar nochmal knapp entgangen: das Wilhelm Hoeck in Charlottenburg.
Dem grassierenden Kneipensterben offenbar nochmal knapp entgangen: das Wilhelm Hoeck in Charlottenburg.
© Cay Dobberke

Längst ist das „Kneipensterben“ gerade in den großen Städten als kulturelles Phänomen erkannt – auch jenseits der Fachliteratur: Es gibt Nachrufe in den Medien, ein eigenes Kapitel im Wikipediaeintrag zur Kneipe – und lokale Brauereien überbieten sich mit Strategien zur Kneipenrettung. Beispiel Berlin: Da bringt Schultheiss Kiezkneipenführer heraus, veranstaltet die „Lange Nacht der Kiezkneipen“, wählt die „beste Kiezkneipe“ und kutschiert Frank Zander auf einer „Pferdebierkutsche“ durch die Stadt.

Einer der schönsten Bildbände des Jahres 2016, Clemens Marschalls und Klaus Pichlers „Golden Days before they End“ (Edition Patrick Frey), dokumentiert die untergehenden Beisl, Hüttn und Branntweiner Wiens. Heinz Strunks Erfolgsroman „Zum goldenen Handschuh“ (Rowohlt), spielt im Kneipenmilieu im Hamburger Kiez. Bernd Imgrund reist für „Kein Bier vor vier“ (Kiepenheuer&Witsch) durch die Altherrenkneipen Deutschlands. Hanne Walter und Henning Kreitel führen in „Uff’n Bier“ (Mitteldeutscher Verlag) durch die Eckkneipen Berlins. In alledem schwingt mit: Lasst sie uns jetzt noch thematisieren, bevor sie ganz verschwinden!

Aber warum interessiert das überhaupt so sehr? Kneipen finden keine Kundschaft mehr oder nicht genug, um die steigenden Mieten zu bezahlen, also müssen sie schließen. So funktioniert das überall sonst doch auch. Dann gehen die Leute eben woanders hin, trinken zu Hause, oder – noch besser – gar nicht.

„Die Kneipe“ ist, so klingt es aus jedem der oben genannten Werke, aber mehr als nur eine Kneipe. Es wird ja nicht diesem oder jenem Kneipier nachgerufen, nicht einmal wirklich einer Kneipe an sich. Sondern ihrer Funktion. Das „enge Zusammensein“, wie es der Wortstamm verspricht, das Aufsuchen des Ortes aus „sozialen Motiven“, wie der „Spiegel“ schrieb, die „Heimat und Heimatlosigkeit“, wie es Füsers nennt.

Ein Ort, wo sich die Gesellschaft trifft, zufällig und ungezwungen. Eine Agora, aber eben mit Bier. Etwas, was der Soziologe Ray Oldenburg „Dritter Ort“ nennt und der es als solcher prinzipiell aufnehmen kann mit dem Bistro, wie Augé es beschreibt und wie ich es erlebt habe. Ein Ort, der gleichberechtigt neben dem Ersten Ort, dem Zuhause, und dem Zweiten Ort, dem Arbeitsplatz, steht. Eine Begegnungsstätte. Wie Park, Café, Bibliothek, Museum, Kirche, Buchladen.

Akademisches Trinken. In der Kreuzberger Traditionsdestille Leydicke soffen Arbeiter und Kleinbürger, bevor Studenten die Gastwirtschaft zum Szenelokal der 68er-Bewegung machten.
Akademisches Trinken. In der Kreuzberger Traditionsdestille Leydicke soffen Arbeiter und Kleinbürger, bevor Studenten die Gastwirtschaft zum Szenelokal der 68er-Bewegung machten.
© ullstein bild

Oldenburg charakterisiert diesen Ort als günstig oder umsonst. Er unterscheidet nicht nach Status oder Kapital, ist voraussetzungslos, ganzheitlich und stellt keine Ansprüche. Der Dritte Ort steht allen Menschen einer Gesellschaft grundsätzlich offen. Er ist ein Ort des Kontakts. Nicht zwangsläufig ein Ort, wo man Freundschaften schließt, aber eben eher als die U-Bahn, in der man mit Kopfhörern nebeneinander steht. Er ist maßgeblich für das Funktionieren einer Demokratie, schreibt Oldenburg, denn er stellt Öffentlichkeit her, durch Austausch zwischen unten und oben, links und rechts, außen und innen. Und erinnert einen durch Konfrontation und Kontakt mit anderen daran, dass man nicht die Norm ist, egal ob arm oder reich, Studienrat oder Vorarbeiter, alteingesessen oder zugezogen. Verhärtungen gegen Anderslebende und -meinende, wie sie heutzutage in virtuellen Filterblasen und Echokammern entstehen, können an diesem Ort herausmassiert werden. Jede Stadt, jedes Land hat ihn auf ganz eigene Weise hervorgebracht – zu nennen sind hier auch das Unesco-Welterbe Wiener Kaffeehaus oder das englische Pub beziehungsweise Freehouse, das seine ideelle Funktion bereits im Namen trägt.

Warum der Kneipe nachweinen?

Die Frage ist nur: Hält die Berliner Kneipe heute noch, was das Ideal des Dritten Orts verspricht? Zwar liegt vor mir ein Ausstellungskatalog, in dem sie als genau das bejubelt wird, als „Ort der Zahlabende der Parteien, Treffpunkt von Gewerkschaftsgruppen, Stammlokal von Sportvereinen, Geselligkeitsvereinen und Sparvereinen, Ort für größere Familienfeiern, Zuflucht für Einsame und Alleinstehende, Oase für durstige Kehlen, aber auch Stammtisch für Spießbürger und Traditionsvereine der alten Armee und Marine“. Aber der Katalog, in dem der damalige Berliner Bausenator Peter Ulrich das schreibt, ist von 1980 – also aus einem Jahr, in dem der „Spiegel“ feststellt: „Es wird mehr getrunken als je zuvor.“ Begründet wird das nicht etwa mit Bars, Diskotheken und Rockfestivals, sondern eben so: „Es scheint, als habe die deutsche Kneipe alle Widrigkeiten der Zeitläufte überstanden, die Konkurrenz des Fernsehens und des Flaschenbiers, die Bleibe-schlankBewegung wie die Coca-Cola-Ideologie und das Promillegesetz dazu.“

In Berlin und anderen großen Städten kommt zu dieser Hochzeit der Jedermannkneipe noch ein gewisser Glamourfaktor hinzu: Promis tragen die Eckkneipe bis in die Klatschpresse und damit in die Hände der Damen beim Frisör und der Herren in – nun ja – den Kneipen. Brigitte Mira etwa spielt nicht nur Kneipengängerinnen, zum Beispiel bei den „Drei Damen vom Grill“ oder als Emmi Kurowski in Fassbinders „Angst essen Seele auf“, wo sie beim Tanz in der Kneipe den marokkanischen Gastarbeiter Ali kennenlernt, der sie später in ebenjener Kneipe betrügen wird. Nein, sie ist auch eine: Während der Dreharbeiten in München soll Mira in der „Deutschen Eiche“ Stammgast gewesen sein, und auch ihren fünften Mann lernt sie in einer Kneipe kennen. „Das Verführerische an der Berliner Eckkneipe“, schreibt Mira ins Gästebuch ihre Stammlokals Wendel am Richard-Wagner-Platz, „ist, dass man sie von zwei Seiten ansteuern kann.“ Das kann nur geografisch gemeint sein, man kann es aber auch als Beschreibung des sozialen Orts Kneipe lesen: Sie ist die Mitte, in der Menschen vom oberen und unteren Ende der sozialen Leiter zusammenkommen.

 Poetisches Trinken. Das Café Josty am Potsdamer Platz im 19. Jahrhundert. Heinrich Heine besuchte es zuweilen.
Poetisches Trinken. Das Café Josty am Potsdamer Platz im 19. Jahrhundert. Heinrich Heine besuchte es zuweilen.
© ullstein bild

Die Verbindung zwischen Trinkort und Kultur, hoch oder populär, beginnt indes nicht erst bei Mira und Fassbinder. Im Roten Salon des „Café Stehely“ in der Jägerstraße traf sich einst der „radikale Doktorenklub“ von Max Stirner. Regelmäßiger Zuhörer: der junge Karl Marx. Heinrich Heine und Joseph von Eichendorff verkehrten schon am Ende des 18. Jahrhunderts im „Café Josty“ in der Joachimsthaler Straße, 100 Jahre später stritten dort Theodor Fontane und Adolph Menzel darüber, wer der wichtigste deutsche Realist ist. Und auch wenn die genannten Etablissements kaum als einfache Bierschwemmen durchgehen, sind sie doch Vorreiter von etwas, was mit der Alphabetisierung und Politisierung breiter Massen genau dort Einzug fand: Kneipen sind, bis heute, idealerweise Orte der offenen Auseinandersetzung, eines weitgehend herrschaftsfreien Diskurses. Getreu dem Motto: Wer da ist, darf auch mitreden.

Nur: Wer ist heute überhaupt noch da?

Kneipenbesucher von heute sind eher Szenelokal-Besucher.

Die Kneipe im Erdgeschoss meines Hauses gibt es seit Anfang der 70er Jahre. Mein Haus steht in einer ehemaligen West-Berliner Arbeitergegend. Im Vorderhaus gibt es Arztpraxen, Wohngemeinschaften, junge Familien, einige Alteingesessene. Oben, im vierten Stock, ragt eine herrschaftliche Engelsfigur herab, ein großer, gründerzeitlicher Balkon. Das Mietshaus ist instandgesetzt, nicht saniert, konnte sich also noch ein wenig der typischen Heterogenität erhalten, die hier mal stadtplanerisches Ideal war.

„In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns, auf dem Wege nach dem Gymnasium.“ Das schrieb James Hobrecht, jener Architekt und Planer, der Berlins Erscheinungsbild gestaltet hat wie kein Zweiter: eine Stadt aus Mietskasernen, in denen eine soziale Mischung möglich gemacht werden sollte, wodurch die Bessergestellten die Not der Armen im Blick behalten und Menschen wie „der Beamte, der Künstler, der Gelehrte, der Lehrer usw.“ fördernd und anregend auf bildungsferne Familien wirken sollten, „und wäre es fast nur durch ihr Dasein und stummes Beispiel“. Eine Mischung, die unten, oder an der nächsten Ecke, in der Kneipe fortgeführt werden konnte.

Heute wohnen die Kinder des „Rats oder Kaufmanns“ nur noch selten mit den Kindern von Näherinnen oder Putzfrauen im selben Haus oder gar im selben Block. Die Entmischung in den Wohnquartieren entmischt schließlich auch die mögliche Kundschaft für eine Nachbarschaftskneipe. Die muss in der Innenstadt zusätzlich damit kämpfen, dass das eigene Geschäftsmodell, der Verkauf von Standardalkoholika zu moderaten Preisen, selbst bei vergleichsweise reger Nachfrage kaum konkurrenzfähig ist. Bars und Boutiquen lassen die Ladenmieten steigen, und der eine oder andere ambitionierte Vermieter wünscht sich auch schlicht etwas Prestigeträchtigeres und Emissionsärmeres in seinem Haus als ein Raucherlokal. Dass etwa das bayerische Ehepaar, dem heute die Räumlichkeiten des Charlottenburger Wilhelm Hoeck gehören (Der Tagesspiegel berichtete), im Streit mit der bisherigen Pächterin mit der Umwandlung in eine Drogerie gedroht haben soll, mag noch andere Gründe haben. Dass das Traditionslokal nach 125 Jahren seit vergangenem Sonntag zwischenzeitlich geschlossen ist, deutet aber darauf hin, dass die klassische Kiezkneipe weniger als je eine Bestandsgarantie hat.

Dazu führt auch, dass sich das Ausgehverhalten grundlegend geändert hat. „Kneipenbesucher von heute sind eher Szenelokal-Besucher. Anders als früher gehen sie nicht in jeder Stimmung in ihre Kneipe im Wohnviertel, sondern suchen sich die Lokalität aus, die zu ihrem Gefühl passt“, schrieb der Trendforscher Peter Wippermann 2012 in der „Welt“. Wo die Wahlmöglichkeiten nicht da sind, auf dem Land oder in Vororten, mag die Kneipe hin und wieder noch als Gemeinschaftsort funktionieren. In der Großstadt aber, wo an vielen Ecken zwar noch eine Eckkneipe ist, an jeder nächsten aber schon eine zielgruppenspitze Szenekneipe, trennen sich die Milieus sauber.

Dieses veränderte Ausgehverhalten hat der Restaurantkritiker des „New Yorker“, Todd Kliman, 2015 in der Zeitschrift „Oxford American“ beschrieben. In seinem Essay „Coding and Decoding Dinner“ beschreibt er implizite Hinweise darauf, für wen eine Einrichtung gemacht ist. „Ein gastronomischer Betrieb ist ein Netzwerk von Codes“, konstatiert er. Vom Kellner im Frack bis zur Bedienung mit Dekolletétattoo. Vom Logo einer jungen Biobiermarke bis zum Schultheiss-Schild. Wer nicht reinpasst, ist zwar theoretisch willkommen, sucht sich aber lieber etwas, wo er mehr Insider, weniger Outsider ist. Die Szenekneipe ist die logische Konsequenz. Wenn man unter diesen Begriff auch Orte wie Shishacafés, Schwulenbars oder türkische Teestuben fasst, erkennt man, wie sehr das Prinzip dieses Subgruppenorts Berlin inzwischen prägt.

Derartige Räume machen die Stadt reicher und interessanter. Sie bringen aber keine Vermischung, keine Gleichheit, es sind keine „voraussetzungslosen“ Räume (Ray Oldenburg über Dritte Orte), kein Platz der „Vermischung der Gattungen“ (Marc Augé über Bistros).

Für die Eckkneipe bedeuten all diese Orte einen Verlust potenzieller Gäste, der durch veränderte Lebensgewohnheiten in der Gesellschaft noch vergrößert wird: Sonntagmorgens ist heute eher Joggen als Frühschoppen. Gesundheit ist soziales Kapital. Promis sind in Eckkneipen eher eine Seltenheit. Rauchen? Wenn, dann draußen. Und Treffen von Gewerkschaften, Spar- oder Marinevereinen finden heute entweder nicht mehr in Kneipen statt oder es gibt sie schlicht gar nicht mehr.

So ist die Eckkneipe über die Jahre selbst zu einer Art Szenekneipe geworden – ein Grund dafür, dass ich sie nicht sofort, als ich nach Berlin kam, als „Dritten Ort“ erkannt habe. Mit eigenen unausgesprochenen Codes. „Nur Trinker“ vielleicht oder „Nur über 50“, „Keine Nichtraucher“ oder – je weiter man sich vom Innenstadtring entfernt – auch immer öfter „Nur Deutsche“. Und wenn seit einigen Jahren jüngere Berliner in den Innenstadtbereichen einige wenige dieser Eckkneipen aufsuchen, dann werden sie kein Teil des Ganzen, sondern bleiben Fremdkörper, Gruppen, ironische Beobachter – zu groß ist die Kluft zwischen den alten Trinkern und ihnen, zu unterschiedlich sind auch die Zeiten. Schichtwechsel eben.

Eine Frau klebte Briefmarken auf eine Handvoll Briefe

Weihnachten verbrachte ich außerhalb Berlins. Als ich am 28. Dezember zurückkam, war die Stadt, wie immer zu dieser Zeit, leer und verlassen. In der Kneipe unter meiner Wohnung brannte, wie immer, Licht. Tagsüber kamen die üblichen Gäste, nachts nur wenige. Drinnen wurde wie immer getrunken, bestimmt saß der Herr mit dem Taschenrechner wieder einmal am Tresen oder die hustenden Damen. Was dort nicht vorkam, war etwas Unvorhergesehenes. Wie denn auch? Die Zugezogenen waren zu Hause bei ihren Familien, die Dagebliebenen hatten Platz. Heute sicherlich kein Schichtwechsel. Oder wenn man so will: Nicht einmal das.

Am späten Nachmittag lief ich an der Kneipe vorbei, es hing ein Flyer draußen für die Silvesterparty. Ich ging die Straße entlang, bog rechts ein und betrat einen hell erleuchteten Späti. Der Verkäufer bespielte den Laden, wie immer, mit lauter, türkischer Musik. Eine Frau klebte Briefmarken auf eine Handvoll Briefe. Ein Mann kaufte Zigaretten und Chantré, und eine ältere Frau wartete in der Schlange mit einem Strauß Blumen. Hinter ihr blätterte ein Anzugträger mit Ohrstöpseln im „Handelsblatt“. Ich kaufte Milch, eine Zeitung und ein kleines Bier. Damit setzte ich mich auf die Bank vor der Tür und rauchte.

Die Kunden zahlten einer nach dem anderen, der Spätiverkäufer stellte sich in die Tür, zündete sich eine Zigarette an, zeigte auf das vor uns geparkte Auto und sagte: „Geiler Wagen, oder?“ Wir unterhielten uns lange über Belanglosigkeiten, dann ging ich nach Hause, packte meine Sachen und ging zum Bus, um mich irgendwo ein paar Ecken weiter mit meinesgleichen zu treffen. Kurz vor Mitternacht brannte in der Kneipe im Erdgeschoss Licht. Darin saßen fünf, sechs Menschen. Die, die immer da sitzen.

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