Debatte um Immunitätsausweis: Kontaktbeschränkungen auch für Genesene?
130.000 Menschen in Deutschland haben das Virus überstanden und sind immun – die Abstandsregeln gelten für sie trotzdem. Muss ein Immunitätsausweis her?
In Deutschland werden die Freiheiten der Menschen derzeit so stark eingeschränkt, wie es in einer Demokratie nicht normal ist. Es geschieht zum Wohle der Allgemeinheit. Der Einzelne verzichtet, weil er eine Gefahr sein kann, falls er das Coronavirus in sich trägt und so andere ansteckt und womöglich dem Risiko des Todes aussetzt. So weit, so logisch, in all seiner Schwere.
Doch was wäre, wenn ich objektiv nicht gefährlich bin, weil ich immun bin? Wären die Eingriffe des Staats in meine Grundrechte und Freiheiten dann nicht unverhältnismäßig? Der Berliner Richter und Gründer der „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ (GFF), Ulf Buermeyer, glaubt, der Staat könnte hier in Begründungsnöte für die Einschränkungen kommen. Warum sollte sich jemand, der immun ist, an ein Kontaktverbot halten müssen?
[Alle aktuellen Entwicklungen in Folge der Coronavirus-Pandemie finden Sie hier in unserem Newsblog. Über die Entwicklungen speziell in Berlin halten wir Sie an dieser Stelle auf dem Laufenden]
Zunächst ist noch nicht abschließend geklärt, ob ein genesener Covid-19-Patient wirklich gegen das Virus immun ist und andere nicht mehr anstecken kann. Doch vieles deutet darauf hin. Charité-Virologe Christian Drosten sagte dazu im „Corona-Podcast“ des Norddeutschen Rundfunks, er gehe „vollkommen davon aus, dass es eine Immunität gibt“.
Direkt nach der Infektion könne sich der Patient nicht noch mal infizieren, womöglich aber nach einer Zeit von rund zwei Jahren, wenn auch nicht so schwer. Damit sei der Genesene auch nicht mehr so ansteckend.
Drosten sagte, man habe diese Erkenntnisse von den Erkältungs-Coronaviren, er gehe davon aus, dass sich das bei Sars-Cov-2 ebenso verhalte. „Ich gehe im Moment davon aus, dass jemand, der die Krankheit gerade überstanden hat, auf eine gewisse Weise als immun zu betrachten ist.“
Spahn kündigt Immunitätsausweis an
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat nun angekündigt, einen Immunitätsausweis einführen zu wollen, der nachweisen soll, dass eine Covid-19-Erkrankung überstanden ist. Ein entsprechender Gesetzesentwurf wurde am Mittwoch im Kabinett beschlossen. Bei dem Gesetz handele es sich also um eine „vorsorgliche Regelung“, sagte Spahn, da es den wissenschaftlichen Beweise, dass sich Menschen nach einer Corona-Erkrankung nicht wieder anstecken können, noch nicht gebe.
Berlin hat noch keinen Plan, wie es mit genesenen und damit möglicherweise als immun geltenden Covid-19-Patienten umgeht. Auf Anfrage des Tagesspiegels bei den Senatsverwaltungen für Gesundheit und für Inneres, wird zunächst jeweils auf die Zuständigkeit der anderen Senatsverwaltung verwiesen.
Die Anfrage, ob bereits eine Anweisung dafür vorliegt, wie mit genesenen Covid-19-Patienten umgegangen werden soll, teilt schließlich die Senatsgesundheitsverwaltung mit: „Eine ausdrückliche Anweisung im Sinne einer formellen Anordnung, Dienstanweisung, Rundschreiben o.ä. gibt es nicht.“ Im Einzelfall entscheide das zuständige Gesundheitsamt. Die Regelungen der Eindämmungsmaßnahmenverordnung würden regelmäßig auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft und bei Bedarf entsprechend angepasst.
Mehr als 130.000 Infizierte bereits genesen
Inzwischen sind von den rund 165.000 an Covid-19 erkrankten Menschen in Deutschland bereits mehr als 130.000 wieder genesen. Doch auch für sie gelten Kontaktbeschränkungen. Sie dürfen nur mit Mundschutz einkaufen gehen und Bus und Bahn fahren. Sie dürfen ihre Verwandten nicht im Seniorenstift besuchen, ihre Freunde nicht zu Hause.
Der Berliner Richter Ulf Buermeyer sieht genau hier das Problem. Grundrechtseingriffe müssen verhältnismäßig sein. Damit sie das sind, müssen die Maßnahmen des Staats auch geeignet sein, um das anvisierte Ziel überhaupt zu erreichen. „Weil es um eine Neuansteckungsvermeidung geht, wäre ein Kontaktverbot nicht geeignet, wenn jemand andere gar nicht anstecken kann“, sagt Buermeyer.
Bewegungsfreiheit nur für Genesene?
Buermeyer aber sieht zwei Ansätze, wie der Staat doch begründen könnte, warum alle gemeinsam die Grundrechtseingriffe hinnehmen müssen – auch der Einzelne, der immun ist. Das erste sei ein psychologisches Argument: „Menschen, die genesen sind, würden sich anders verhalten, dadurch würde ein anderer Eindruck in der Gesellschaft entstehen, wenn diese Menschen dann keine Masken tragen und im Park kuscheln“, sagt Buermeyer.
Und das könnte die Wirksamkeit der Maßnahmen insgesamt beeinträchtigen. Allerdings habe der Richter einen derartigen Begründungsansatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher noch nicht gesehen.
Der zweite Begründungsansatz sei da durchschlagskräftiger, meint Buermeyer, das sei die „Unsicherheit im Tatsächlichen“: „Es gibt noch keine Studien dazu, wie es sich verhält mit der Immunisierung. Man kann es noch nicht wissen, weil das Virus dazu zu neu ist.“ Problematisch sei vor allem die besonders hohe Fehlerquote der Antikörpertests.
WHO warnt vor Immunitätsausweisen
Die WHO hat davor gewarnt, genesenen Corona-Patienten Immunitätsausweise auszustellen. Der Virologe Christian Drosten glaubt, diese Warnung liege auch an einer möglichen Stigmatisierung. Die sozialen Folgen eines Immunitätsausweises könnten enorm sein. „Das kann ja so weit gehen, dass ich als Arbeitgeber eine Stelle ausschreibe und ich stelle nur Leute ein, die schon immun sind, weil die nicht ausfallen können“, sagte Drosten im NDR-Podcast.
Oder Versicherungen könnten nur denen mit Immunitätsausweis einen günstigeren Tarif geben. Die Effekte der sozialen Stigmatisierung könnten so weit gehen, dass Menschen im Privaten mit ihrem Immunitätsausweis angeben. Oder diejenigen, die keinen Ausweis haben, nicht mehr zur Geburtstagsparty eingeladen würden. „All das müssen wir natürlich verhindern, ich glaube, das zersetzt die Gesellschaft“, sagte Drosten.
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