Barrierefreiheit in Berlin: „Kann man noch verbessern“
Die Berliner Verkehrsbetriebe testen derzeit verschiedene Systeme, die Blinden die Koordination in Bussen erleichtern sollen - der Sehbehinderte Thomas Schmidt hat sie ausprobiert.
So ganz reibungslos funktioniert die neue Lautsprecheranlage an der Bushaltestelle Schloßstraße noch nicht. Mit leichten Artikulationsproblemen rattert die Computerstimme den Fahrplan herunter: „Bus 186 in Richtung Issbahnhoflichterfeldeviabirkbuschstraße kommt in zwei Minuten an.“ Knapp daneben, denn der Bus ist längst weg.
Das System steckt, das wird deutlich, noch in den Kinderschuhen. Erst am vergangenen Montag hat die BVG einen Testlauf für das Informationssystem gestartet, das blinden und sehbehinderten Menschen die Orientierung erleichtern soll. Dazu werden bis Ende April zehn Straßenbahnen, zehn Busse und dreizehn Haltestellen mit verschiedenen Testsystemen ausgestattet.
Thomas Schmidt ist einer von jenen, die eines Tages von der neuen Technik profitieren sollen. Seine Sehfähigkeit liegt bei unter 0,5 Prozent. Damit kann er noch zwischen hell und dunkel unterscheiden.
Resultat eines langen Kampfes
Jeden Morgen kommt der Berliner auf seinem Arbeitsweg an der Haltestelle Schloßstraße vorbei. „Na, mal sehen, welcher Bus jetzt kommt“, sagt Schmidt und drückt den verchromten Knopf am Fahrplanaushang, der den Lautsprecher auslöst. Doch das System bleibt stur: Noch immer wird derselbe Bus angekündigt, der bereits abgefahren ist. „Kann man noch verbessern“, resümiert Schmidt trocken.
Insgesamt drei Systemtypen testet die BVG derzeit. Bei der ersten Variante, wie sie auch an der Schloßstraße eingesetzt wird, spricht die Haltestelle. Für die zweite Variante kommen die Ansagen vom Fahrzeug: Trifft ein Bus an einer Haltestelle ein, verkündet ein Lautsprecher die Ankunft. Das dritte System nutzt das Smartphone der Fahrgäste. Per App und GPS-Ortung soll erkannt werden, an welcher Haltestelle der Nutzer steht und wann sich welcher Bus nähert.
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Bisher musste Schmidt die Orientierung gänzlich alleine bewerkstelligen: Wenn ein Bus einfährt, ist das für Schmidt immer das Deuten verschiedener Signale: der schwere Klang eines Busmotors, quietschende Reifen beim Bremsen und das Pfeifen der Türhydraulik. Entlang einem im Boden eingelassenen Orientierungsstreifen schiebt er sich dann mit seinem Gehstock zum Buseingang, streckt seinen Kopf dem Fahrer entgegen, bekommt eine Liniennummer zugerufen – erst dann steigt er ein. In andere Städte, sagt er, verreise er ausschließlich in Begleitung von Freunden oder Familie, die ihn lotsen können.
„Die neue BVG-Versuchsreihe ist das Resultat eines langen Kampfes“, sagt Paloma Rändel. Sie begleitet Thomas Schmidt an diesem Morgen. Wie er arbeitet auch sie für den Allgemeinen Blinden- und Sehbehinderten-Verein Berlin (ABSV) in Grunewald. Laut Vereinsangaben leben in Berlin rund 26 000 blinde oder sehbehinderte Menschen. 25 Jahre lang habe der Verein auf ein Lautsprechersystem für Busse gedrängt. Umso mehr freue sich Rändel, dass Blinde jetzt gezielt in die Testphase einbezogen werden. Mindestens 100 Testpersonen sucht die BVG. Thomas Schmidt will dabei sein.
Auch Anwohner werden befragt
Auch Ercan Altinsoy von der Technischen Universität Dresden wird die Testphase begleiten. Für das neue System soll er klären, wie die Ansagen beschaffen sein müssen, damit sie trotz Straßenlärm klar verständlich bleiben. Und mit der Verständlichkeit beginnt bereits die nächste Herausforderung. Jemand, der direkt neben einer Haltestelle wohnt, brauche nicht von morgens bis abends zu hören, wann der nächste Bus kommt.
Ideal sei deshalb ein System, das in direkter Nähe klar verständlich ist und mit einiger Entfernung im allgemeinen Straßenlärm untergehe, erklärt Altinsoy. „Denkbar ist, dass wir dafür den Klang je nach Tageszeit verändern“, sagt er. Am späten Abend könne etwa die Lautstärke runtergedreht werden. Um möglichst alle zufriedenzustellen, sollen für den Auswertungsbericht zum Februar 2019 auch Anwohner und Fahrer befragt werden. Doch die Zeit für die BVG wird knapp. 2013 wurde das bundesweite Personenbeförderungsgesetz dahingehend erweitert, dass bis zum 1. Januar 2022 alle öffentlichen Verkehrsmittel barrierefrei sein sollen. Im Nahverkehrsplan legte der Berliner Senat daraufhin fest, dass alle Fahrzeuge, Haltestellen und Informationssystem im ÖPNV ausgebaut werden sollen.
Begründete Ausnahmen und Verzögerungen sind jedoch durch das Gesetz von 2013 möglich. Komplette Barrierefreiheit in Berlin ist schon jetzt unwahrscheinlich. Im Auftrag der Senatsverwaltung für Verkehr verkündete der Verkehrsplaner Volker Eichmann im Sommer, dass bislang nur zehn Prozent der Bushaltestellen barrierefrei seien.
Um die Frist einzuhalten, müssten bis 2022 jährlich 1500 Haltestellen umgebaut werden, etwa durch angepasste Gehsteige für Rollstuhlfahrer. Das sei nicht zu schaffen. Für Übergangshaltestellen, zum Beispiel bei Ersatzverkehr, sei dauerhaft kein sinnvoller Ausbau zur Barrierefreiheit möglich. Und das betrifft dann auch Thomas Schmidt, wenn er seine Haltestelle nicht mehr finden kann.
Am liebsten würde er aber selber mal fahren, sagt Schmidt. Im März bekommt er die Gelegenheit, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Auf dem Tempelhofer Feld veranstaltet sein Blindenverein dann Testfahrten in Fahrschulfahrzeugen. Schon jetzt freut Schmidt darauf, dann endlich selbst am Steuer sitzen zu können.