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Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt begrüßte die über 100 Gäste, diskutiert wurde im Fishbowl-Forum, da sind die Podiumsgäste von den Zuhörern umringt.
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Diskussionsrunde: Wie steht´s um die Inklusion in Berlin?

Im Tagesspiegel-Verlagshaus trafen sich Betroffene, Experten und Politiker, um über Gesundheitsförderung für Menschen mit Behinderung zu diskutieren.

Die Frage lautet: Wie kommt denn der junge Mann Fidi Baum alias Rapper Graf Fidi als gehbehinderter Mensch mit notwendigen Arztbesuchen in oft nicht barrierefreien Praxen klar? Als Antwort hat der Inklusionsaktivist einen lockeren Spruch parat: „Ich hinterlege einfach genug Briefmarken, dann kommen meine Rezepte ganz bequem nach Hause“, sagt er augenzwinkernd. Wenig später singt er seinen seinen Song „G wie Gesundheit“ live im Konferenzsaal des Tagesspiegel am Askanischen Platz in Kreuzberg, und auch viele der anwesenden schick gemachten Damen und der Herren in Anzügen können sich ein Lächeln nicht verkneifen: Applaus für Inklusion.

Dringliches Thema, lockerer Ton

Der als Sozialpädagoge arbeitende Aktivist und Musiker trat beim vom Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) und dem Tagesspiegel gemeinsam veranstalteten Fachforum Gesundheit in der vergangenen Woche im Tagesspiegel-Verlagshaus auf, als Entertainer am Mikro – und er belebte auch die Podiumsdiskussion. Auf Programm standen Keynotes, Debatten und Vorträge zu dem ernsten wie dringlichen Thema: Gesundheitsprävention von Menschen mit Lernschwierigkeiten – das ist der inklusive Sprachgebrauch für Menschen mit geistiger Behinderung.

Unter dem Motto „Selbstbestimmt“ diskutierten Betroffene, Experten aus Wissenschaft und Praxis sowie Vertreter aus der Politik auch von den zuständigen Bundesministerien, wie es um die Inklusion und die Gesundheitsförderung für von körperlichen und geistigen Behinderungen betroffene Menschen steht und wie diese in Zukunft verbessert werden können.

Berliner Arztpraxen sind praktisch nie barrierefrei

Daran, dass ein enormer Handlungsbedarf besteht, gab es bei allen Anwesenden keinen Zweifel: „Es reicht nicht, bloß verbal anzuerkennen, dass ein Recht auf Inklusion besteht“, sagt die neue Landesbeauftragte für Menschen mit Behinderung, Christine Braunert-Rümenapf mit Nachdruck, und nannte eine bestürzende Zahl: Laut einer Erhebung aus dem Jahr 2013 seien nur rund ein Prozent aller Arztpraxen in Berlin barrierefrei. Dabei werden Menschen mit Lernschwierigkeiten rund dreimal häufiger krank als Nichtbehinderte.

Zwar hätten an der freiwilligen Umfrage, die auch die Barrierefreiheit für seh- und geistig Behinderte abfragte, nur etwas weniger als die Hälfte der damals 3881 Berliner Arztpraxen teilgenommen. Dessen ungeachtet fordert die Beauftragte indes „klare Verantwortlichkeiten“ und eine eindeutige Kennzeichnung von „Lücken, Handlungen und Lösungen“ im Bereich der Inklusion von Behinderten.

Barrierefreiheit gehe über „bauliche Aspekte“ hinaus. Während ebenerdige Praxen oder Fahrstühle und Rampen immerhin öfters anzutreffen seien, fehle es in den meisten Fällen schon an barrierefreien Toiletten und Mobiliar oder Informationsmaterial in leicht verständlicher Sprache für Menschen mit geistiger Behinderung.

Abrechnungsmodell der Krankenkassen behindert Inklusion

Auch ausreichend geschultes Personal sei in zu knapper Zahl vorhanden. Braunert-Rümenapf macht dafür auch das Abrechnungsmodell der Krankenkassen verantwortlich, das den zeitlichen und finanziellen Mehraufwand für behinderte Menschen in Arztpraxen nicht berücksichtige. „Die freie Wahl der Arztpraxis ist damit faktisch eingeschränkt.“ Immerhin: Der Berliner Senat plane mehrere Gesetzesinitiativen, unter anderem eine Ablösung des Landesgleichstellungsgesetzes durch ein neues Gesetzeswerk.

Dann zeigte der Verband der Ersatzkassen mit seinem Präventionsprojekt „Gesund!“ aber, dass sich auch viel Positives bewegt.

Das Forschungsunterfangen der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin unter Leitung von Reinhard Burtscher untersucht mit einem integrativen Konzept, wie sich Strategien zur Gesundheitsförderung für Menschen mit Lernschwierigkeiten umsetzen lassen. Integrativ bedeutet dabei, „mit den Menschen zu forschen, nicht über sie“, wie Burtscher sagte: Mit „partizipativer Forschung“ könne man gesundheitliche Bildung im selbstbestimmten Rahmen vermitteln.

„Freunde sind das Wichtigste im Leben, Frieden ist das Oberwichtigste.“ Viel Applaus bekam Christian Meinhard, der in einer Werkstätte im Bootsbau arbeitet, für seine lebhaft vorgetragenen Beiträge. Meinhard nahm teil am Projekt „Gesund!“. Fotos: Tagesspiegel/promo
„Freunde sind das Wichtigste im Leben, Frieden ist das Oberwichtigste.“ Viel Applaus bekam Christian Meinhard, der in einer Werkstätte im Bootsbau arbeitet, für seine lebhaft vorgetragenen Beiträge. Meinhard nahm teil am Projekt „Gesund!“. Fotos: Tagesspiegel/promo
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Zusammen mit Mitarbeitern in der LWB - Lichtenberger Werkstätten gemeinnützige GmbH – wurden zwei, auch für andere Werkstätten beispielhafte, Projekte entwickelt, die sich in einer theoretischen und einer praktischen Phase mit den Themen „Gesundes Essen“ und „Lärm“ in der Behindertenwerkstatt befasst haben. Da lernten sie, dass zum Wohlbefinden eben auch Freunde und Kollegen, wenig Stress, gesundes Essen und Arbeitszufriedenheit gehören.

Behinderten geht es dabei nicht viel anders als Nichtbehinderten: Im Durchschnitt wird nicht der bekannte Lärm der Maschinen in den Arbeitsbereichen, sondern das Geschirrgeklapper und Stimmengewirr in der Kantine am störendsten empfunden – oder das Sirren einer Mücke.

In Berlin sind 1600 Menschen in den 17 Behindertenwerkstätten beschäftigt

Das bilanzierte einer der Referenten, Christian Meinhard, der als Mitarbeiter in der Behindertenwerkstatt bei „Gesund!“ mitmachte. In der ganzen Stadt sind rund 1600 Menschen in den 17 Berliner Behindertenwerkstätten beschäftigt. Zum Thema „gesundes Essen“ bemerkt sein Kollege Sven Frey schmunzelnd, dass man trotz seines Lieblingsessen, Sauerbraten in Rotweinsauce, schon überlegen könne, ob es bei jeder Mahlzeit unbedingt Fleisch sein müsse.

Erfreut über die Ergebnisse des geförderten Pilotprojektes zeigte sich in der anschließenden Diskussion Ulrike Elsner, vdek-Vorstandsvorsitzende. Die eigenen Programme des Verbands wie Präventionsangebote für benachteiligte Menschen und Broschüren in leichter Sprache hätte es ohne Anregungen aus der Praxis nicht gegeben. Beim Thema barrierefreie Arztpraxen dagegen fand es auch Elsner „erschreckend“, dass auch neue und sanierte Praxen nicht barrierefrei zugänglich sein müssen.

In der Tat zählen Arztpraxen als private Einrichtungen und müssen daher nicht barrierefrei ausgebaut sein, bestätigt die Kassenärztliche Vereinigung Berlin nach dem Event auf Anfrage. Auch deswegen, argumentierte der Musiker Graf Fidi, müssten behinderte Menschen selbst ihre Stimme erheben, denn „Menschen ohne Behinderung treffen die Entscheidungen“. Schärfere Worte fand der ehemalige Landesbehindertenbeauftragte, Martin Marquardt: Der Status der Barrierefreiheit in der Stadt sei schlicht eine „Katastrophe“. Doch es seien immer mehr ältere Bürger betroffen, bestätigte Regina Kraushaar, Leiterin der Abteilung Pflegesicherung und Prävention im Bundesgesundheitsministerium.

Vorschlagsammlung zur Verbesserung der Situation

Bei der Debatte arbeiteten die Diskutanten mit Tagesspiegel-Redakteurin und „Menschen-helfen“-Macherin Annette Kögel als Moderatorin Vorschläge zur Verbesserung der Situation heraus: Von Bonus- oder Fallpauschalzahlungen für Ärzte mit barrierefreien Praxen über die Idee der Auslobung eines Wettbewerbs mit Auszeichnungen für engagierte Ärzte oder Physiotherapie-Praxen bis hin zu strengen gesetzlichen Auflagen sowie deren – derzeit oft nicht zu leistender – Kontrolle. Rolf Schmachtenberg, Leiter der Abteilung für die Belange behinderter Menschen beim Bundessozialministeriums, gab beim Praxisbau zu bedenken: „In Deutschland ist es momentan politisch nicht mehrheitsfähig, die Privaten in die Pflicht zu nehmen.“ Auch da sollte Inklusion, auf andere Weise, ansetzen.

Broschüre zum Projekt "Gesund!"

Zum Projekt „Gesund!“ geben die Katholische Hochschule für Sozialwesen und der Verband der Ersatzkassen e.V. (vdek) eine Broschüre zum Thema Gesundheitsförderung für Menschen mit Lernschwierigkeiten heraus. Das Heft „Leichter lernen mit dem Projekt GESUND!“ von Reinhard Burtscher, Theresa Allweiss, Merlin Perowanowitsch und Elisabeth Rott präsentiert in sechs Kapiteln auch in einfacher Sprache die Ergebnisse der Forschung an der Behindertenwerkstatt Lichtenberg. Die Broschüre enthält Schulungsmaterial und praxisorientierte Tipps für Mitarbeiter von Behindertenwerkstätten, es gibt auch Online-Lehrmaterial. Die Broschüre kann auf der Website der vdek heruntergeladen werden oder per E-Mail bestellt werden unter folgender Adresse: stefanie.thees[at]vdek.com.mh

Markus Hüttmann

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