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Abschreckung lohnt sich: Manchnal müssen die Strafverfolger zu drastischen Mitteln greifen.
© dpa

Interview mit Oberstaatsanwalt Andreas Behm: „Jugendgangs gibt es kaum noch“

Die Söhne krimineller Großfamilien: Übertrieben. Jugendkriminalität in Berlin: Sinkt seit Jahren. Eine typische Karriere zum Mehrfachtäter: Gibt es nicht. Oberstaatsanwalt Andreas Behm über Fakten und Klischees der Jugendkriminalität.

Herr Behm, der polizeilichen Kriminalitätsstatistik zufolge sinken die Fallzahlen bei der Körperverletzung, einem Delikt, zu dem besonders junge Männer neigen. Halten Sie die Entwicklung für Zufall oder sehen Sie Gründe dafür?

Lange Zeit ist das umgekehrt gewesen: Körperverletzungen sind über lange Jahre immer gestiegen. Dann bestand nicht nur bei der Polizei der Eindruck, dass sich das Anzeigeverhalten verändert habe. Körperverletzung galt nicht länger als Kavaliersdelikt, etwa in Schulen. Die Anzeigebereitschaft ist unverändert hoch. Die Deliktzahlen in der Jugendkriminalität sinken generell, seit etwa 2008. Und die Fallzahlen gehen deutlich stärker zurück als die Anzahl der Jugendlichen.

Spricht sich unter jungen Männer herum, dass man leichter und schneller einfährt, wenn man auf Dauer kriminell ist?

Ich glaube, dass generell die Maßnahmen gegen Jugenddelinquenz greifen. Dazu gehört die Strafverfolgung. Aber nur ein kleiner Teil der jungen Kriminellen gehört zu den Intensivtätern. Es gibt auch die Schwellentäter, die womöglich gerade am Anfang einer kriminellen Laufbahn stehen. Dass Jugendliche heute noch vierzig offene Verfahren haben, das gibt es praktisch nicht mehr. Polizei und Staatsanwaltschaft gehen früher ran, man lässt nicht mehr so viel laufen. Entscheidend dürfte auch sein: Schulen ziehen bei Straftaten andere staatliche Stellen hinzu. Für Präventionsbeamte war es vor längerer Zeit unmöglich, in Schulen zu gehen. Heute findet das statt. Jugendämter und Familiengerichte reagieren früher. Das war übrigens auch immer ein Bestreben von Kirsten Heisig, dass ein großer Kreis sich um die Bekämpfung von Jugendkriminalität kümmert. Das ist heute viel besser geworden.

Frau Heisig, die sich vor fünf Jahren das Leben nahm, hatte für eine Gruppe von Jugendrichtern gesprochen. Auf der Anklageseite gab es den bekannten Staatsanwalt Roman Reusch, dem es besonders um die Bekämpfung von Jugendgewalt ging. War es die Zusammenarbeit dieser Leute, die die Entwicklung in Gang gebracht hat?

Sie haben zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Schwerpunkten gearbeitet. Herr Reusch hatte einen klaren Blick auf Intensivtäter. Der Ansatz von Frau Heisig war breiter. Sie wollte Jugendkriminalität bewusst machen. Dazu hat sie viel Netzwerkarbeit gemacht, auch mit den Bezirkspolitikern. Im Fokus von Herrn Reusch waren hingegen die Intensivtäter mit den 40 offenen Verfahren. Frau Heisigs Ansatz hatte eine andere Qualität. Aus ihrem Networking ist das Neuköllner Modell entstanden. Dieses Modell will frühe strafverfolgende Tätigkeit. Frau Heisig wollte die kriminelle Karriere unten abschneiden. Reusch wollte ihr oben die Spitze wegnehmen. Jeder hatte berechtigte Anliegen, aber die beiden waren nicht auf einer Linie.

Wie sieht heute eine typische Jungkriminellenkarriere aus?

Die typische, die häufigste ist: ein Ladendiebstahl und nie wieder. Eine Körperverletzung und nie wieder. Das gilt für 50 Prozent der Beschuldigten. Eine typische Karriere zum Mehrfachtäter gibt es nicht. Man kann ein paar soziologische Faktoren erkennen: schlechte Schulbildung, schlechte Sozialisation zum Beispiel. Das erklärt nicht, warum einzelne aus einer Gruppe zehn Straftaten begehen, andere gar keine. Manche fallen als Kinder auf und als Jugendliche immer weiter. Meistens sind es Spontan-Taten.

Sollte es bei der Staatsanwaltschaft eine besondere Zuständigkeit für Jugendgruppengewalt geben?

Die brauchen wir nicht mehr. Weil es kaum noch feste Jugendgangs gibt. Eigentlich ist das eine gesellschaftliche Leistung. Ähnliches gilt für die Jugendkriminalität generell. 2006 hatten wir 81 000 Verfahren, 2014 waren es 45 000. Solche Entwicklungen, an denen viele mitgearbeitet haben, sind doch faszinierend gut!

Großfamilien und Rockergangs

Abschreckung lohnt sich: Manchnal müssen die Strafverfolger zu drastischen Mitteln greifen.
Abschreckung lohnt sich: Manchnal müssen die Strafverfolger zu drastischen Mitteln greifen.
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Offenbar kommen junge Intensivtäter besonders häufig aus arabischen Großfamilien, das sagen jedenfalls Zahlen aus Neukölln. Merkt man das in Strafverfahren?

Schwer zu sagen. Wir haben keine Statistik, die Neuköllner Intensivtäter mit einer Ethnie verknüpft. Dass es in den Hauptverhandlungen großen Stress gab, habe ich nie gehört. Bis auf eine Ausnahme: Vergangene Woche hatten wir hier eine Schlägerei im Gerichtssaal – Mitglieder einer arabischen gegen Mitglieder einer afghanischen Großfamilie.

Ist es passiert, dass Kollegen von Ihnen unter Druck gesetzt werden?

Nein. Bis auf den Kollegen in einem Verfahren der Organisierten Kriminalität. Ich meine ein Video, in dem Mitglieder der Hells Angels auf das Foto eines Oberstaatsanwalts und eines Aussteigers schießen. Bei 300 000 Straftaten im Jahr ist das verschwindend gering.

Haben Sie den Eindruck, dass man bei aller Zusammenarbeit zwischen den Ämtern, der Polizei, der Justiz, bestimmte Milieus nicht oder nicht mehr erreicht? Oder hat, zugespitzt gesagt, auch die Großfamilie Abu C. zur Kenntnis genommen, dass es in Berlin eine unabhängige Justiz gibt?

In der Jugendkriminalität, bei den Intensivtätern, haben wir es nicht mit so vielen Mitglieder der berühmt-berüchtigten Großfamilien zu tun. Für die interessieren sich eher die Kollegen von der Organisierten Kriminalität. Natürlich gibt es abgeschottete Bereiche, da kommen wir nur schwer ran. Organisierte Kriminalität ist ein Geschäftsmodell. Wenn man das stört, stört man auch die Kriminellen. Den Geschäftsablauf zu stören, ist eine wichtige Präventionsmaßnahme. Nehmen Sie die Rocker: Wenn auf der Oranienburger Straße jede Woche Einsatzhundertschaften die Freier kontrollieren, stört das das Geschäft der Rocker ungemein.

In Neukölln soll sich eine Arbeitsgruppe des Jugendamts nur um Großfamilien und deren kriminellen Nachwuchs kümmern. Ist das ein vernünftiger Ansatz?

Ob es der richtige Ansatz ist, sich gleich die schwierigste Klientel auszusuchen? Eine Neuköllner CDU-Politikerin sagte mir schon vor zwei Jahren, was die Menschen dort am meisten störe, sei, wenn die jungen Mitglieder dieser Großfamilien in Gruppen auf der Straße herumstehen, wenn sie mit diesen großen Autos herumfahren. Da müsste man eben auch mal ran. Man braucht Präsenz auf der Straße, nicht unbedingt Polizeipräsenz. Wir haben da fast so etwas wie eine Kulturveränderung zu bewirken. Doch nur wenn eine Mehrheit der Neuköllner deutlich macht, dass sie diese Entwicklung nicht will, wird sich daran etwas ändern.

Andreas Behm leitet die Berliner Staatsanwaltschaft. Er unterstützte die Jugendrichterin Kirsten Heisig 2010 bei der Einführung des Neuköllner Modells gegen Jugendkriminalität.

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