Franziska Giffey, Bürgermeisterin von Berlin-Neukölln: "Jugendbanden verbreiten keine Angst mehr in Neukölln"
Neukölln-Nord war und ist besonders kriminalitätsbelastet. Neuköllns Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey im Gespräch mit dem Tagesspiegel über Kriminalität, Prävention und die Spuren der Arbeit von Kirsten Heisig.
Frau Giffey, ein neues Konzept der Neuköllner Jugendämter setzt auf „täterorientierte Intervention“. Was verbirgt sich hinter diesem Schlagwort?
Dieses Konzept zielt auf Intensivtäter. Was Kirsten Heisig gemacht hat, war der präventive Ansatz: Sie hat bei denen angefangen, die noch nicht so weit waren mit ihrer kriminellen Karriere. Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Man muss eben schon im Bildungsbereich anfangen. Wir müssen dafür sorgen, dass Kinder in die Kita gehen, damit sie erfolgreich in der Schule starten können und nicht gleich am Anfang eine Frusterfahrung machen, damit sie gar nicht erst in diese Perspektivlosigkeit hineingeraten. Das ist die Keimzelle von Jugendkriminalität. Die täterorientierte Intervention steht dann erst am Ende der Kette. Da geht es darum, dass alle Behörden, vor allem Polizei und Jugendamt, voneinander wissen, wer was mit einem Jugendlichen tut. Wichtig ist – und das hat Kirsten Heisig umgetrieben –, dass es gar nicht erst so weit kommt!
Die Jugendkriminalität in Berlin ist rückläufig – von 81.000 Verfahren 2006 hin zu 45.000 im vergangenen Jahr. Merken Sie das an der Beanspruchung der Jugend- und Familienhilfe, an den Schulen?
Wir haben nach wie vor enorme Belastungen. Die Ausgaben für Familienhilfen liegen bei 50 Millionen Euro im Jahr. Trotz des Rückgangs der Zahlen gibt es Familien, die sehr viel Hilfe brauchen. Auch an manchen Schulen gibt es eine starke Konzentration der Probleme. Das passt nicht unbedingt zur sonstigen Entwicklung zum Beispiel in Nord-Neukölln oder „Kreuzkölln“, wo sich die Kulturszene etabliert hat und so etwas wie Gentrifizierung geschieht. Es gibt neue Leute, die hierher ziehen, Studenten, Künstler, Architekten – die Mieten steigen, es gibt eine andere Klientel. Aber die spiegelt sich etwa an den Schulen noch nicht wirklich wider. Nach wie vor haben wir in Nord-Neukölln eine Kinderarmut von 75 Prozent.
Wen betrifft sie?
Viele Großfamilien, viele Zuzügler aus Südosteuropa. Da kommen Menschen, die aus extremen Verhältnissen kommen, die diskriminiert wurden oder auf der Suche nach einem besseren Leben sind – und die kein Deutsch können. Nach wie vor wandern bildungsaffine Eltern ab, wenn ihre Kinder in die Schule kommen, entweder in den Süden des Bezirks oder woandershin. Was sich langsam etabliert, sind die sogenannten Initiativ-Eltern. Die sagen: „Wir wollen hier gerne bleiben, aber wir gehen als Gruppe mit unseren Kindern an eine bestimmte Schule. Nur weil die schulische Situation hier schwierig ist, wollen wir nicht gehen.“ Das verändert hier und da die Lage. Und das ist wichtig. Denn es kann nicht gesund sein, wenn an einer Schule fast alle Kinder die Erfahrung mitbringen, dass ihre Eltern nicht zur Arbeit gehen.
Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit der Polizei und der Justiz?
In vielen Teilen sehr gut. Unser Ordnungsamt stimmt sich mit dem Jugendamt und der Polizei ab. Wir haben seit vielen Jahren die Sonderkommission Jugendschutz. Wir müssten schneller sein, wenn eine Behörde zum Beispiel Informationen über einen Hausverkauf oder eine neue Spielhalle bekommt. Da gibt es häufig das Problem des Datenschutzes. Seit einigen Jahren haben wir die Situation, dass ein Geschäft mit dem Ausnutzen der Lebenssituation von Menschen aus Südosteuropa gemacht wird. Das funktioniert mit Schrottimmobilien. Dort werden denen, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Wohnungen finden, Schlafplätze angeboten, teilweise für 200 Euro im Monat. Wenn Sie in einer Wohnung 20 Matratzen vermieten, machen Sie mit einer heruntergekommenen Wohnung extremen Reibach.
Es gibt einige polizeibekannte Großfamilien im Bezirk. Treten die stark in Erscheinung?
Gelegentlich. Streit ums Geschäft wird auf offener Straße ausgetragen, etwa mit einer Schießerei in der Emser Straße oder zuletzt bei einer Messerstecherei vor einem Autohandel am Dammweg. Vor zwei Jahren versuchten Mitglieder einer solchen Familie im Amtsgericht, die Zwangsversteigerung ihrer Immobilie zu verhindern. Da hatten wir dann einen massiven Polizeieinsatz. In Südneukölln versucht eine Familie, das Umfeld einer Kita zu beeinflussen. Und wir verzeichnen ein verstärktes Interesse von Mitgliedern solcher Großfamilien am Immobilienerwerb.
Als Investitionsobjekte für illegale Einkünfte?
Ja klar. Sie versuchen, sich Immobilien zu verschaffen, um das aus kriminellen Machenschaften erlangte Geld zu legalisieren. Und dann ist da der Drogenhandel. Der spielt sich in den U-Bahnhöfen ab und eben in der Hasenheide. Die Polizei sagt, im Vergleich zum Görlitzer Park ist die Hasenheide „unauffällig“. Dort würden nur weiche Drogen gehandelt. Ich finde das trotzdem problematisch. Aus der Sicht einer Mutter, die mit ihrem Kind in der Hasenheide einen Spaziergang macht, stört mich das, auch wenn da „meist nur“ weiche Drogen gedealt werden. Es beeinträchtigt Familien, die da ganz normal ihren Sonntagnachmittag verbringen wollen. Wir wollen erreichen, dass Neukölln auch als familienfreundlicher Bezirk wahrgenommen wird. Wenn Sie hier durch die Straßen gehen, sehen Sie ganz viel Aufbruch und Entwicklung. Neukölln hat viel positives Potenzial, aber wir dürfen Probleme nicht wegreden. Wir haben Großclans und problematische Familienverhältnisse. Das bekommen wir nur mit einer klaren Ordnungsstruktur in den Griff.
Inwieweit hat sich das Straßenbild verändert?
Wir haben nicht mehr die kriminellen Jugendgruppen, die sich auf der Straße versammeln und Angst und Schrecken verbreiten. Heute stellen die Häuser, die massiv überbelegt sind, eine Gefährdung für den sozialen Frieden dar. Dort spielt sich das Leben stärker auf der Straße ab. In der Stuttgarter, der Emser, der Treptower Straße ist das zu sehen. Es gibt auch weiterhin große Gruppen von Familienclans, die arabischen Gruppen, die ihre Konflikte auf der Straße austragen. Aber da ist auch eine andere Seite. Im Böhmischen Dorf rund um den Richardplatz zum Beispiel wird auf der Straße, im Café und auf dem Spielplatz Englisch, Spanisch und Italienisch gesprochen. Am Wochenende feierten wir wieder „48 Stunden Neukölln“, da haben Sie Menschen aus aller Welt. Die Club- und die Barszene – das ist eine völlig andere Klientel, die parallel zu den genannten Klientelen existiert. Das ist auch Neukölln. Da kann man spüren, dass sich die Bevölkerung verändert.
Manche Gruppen zeigen gern Dominanz auf der Straße. Fänden Sie es besser, wenn die Polizei präsenter wäre?
Ordnungspolitik ist extrem wichtig für den sozialen Frieden. Wir haben ein starkes Ordnungsamt mit fast hundert Mitarbeitern. Und wir versuchen, den Außendienst stark aufzustellen, gemeinsam mit der Polizei, und die Zusammenarbeit auch nach außen wahrnehmbar zu machen. Mir ist zum Beispiel wichtig, dass hier eine Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung störungsfrei abläuft – nicht wie in Kreuzberg, wo Anarchisten die Versammlung durch Zwischenrufe sprengen konnten. Das Gleiche gilt für den öffentlichen Stadtraum.
Hier direkt gegenüber vom Rathaus, in den Neukölln Arcaden, hatten sich Jugendgruppen die Helene-Nathan-Bibliothek quasi zu eigen gemacht. Haben Sie diesen Konflikt entschärft?
Definitiv. Das war meine Entscheidung. Die knapp dreißig Mitarbeiter der Bibliothek haben mir berichtet, dass sie die Hälfte ihrer Arbeitszeit damit verbringen, darauf zu pochen, dass die Hausregeln eingehalten werden. Das hatte nicht nur mit den Jugendlichen zu tun. In so einer Bibliothek haben Sie einen Querschnitt durch die Bevölkerung. Da gab es Leute, die vergessen haben, wie man sich in einer Bibliothek benimmt. Ich habe vorgeschlagen, einen Sicherheitsdienst zu holen. Die Mitarbeiter wollten das einstimmig. Und plötzlich haben sich alle wieder daran erinnert, wie man sich in einer Bibliothek verhält. Ich glaube übrigens nicht, dass Neukölln der einzige Bezirk ist, in dem solche Konflikte aufgetreten sind. Die Frage ist, ob man so etwas erträgt oder ein klares Zeichen dagegen setzt.
Kirsten Heisig thematisierte in ihrem Buch „Das Ende der Geduld“ vor fünf Jahren auch die Sorgerechtsproblematik: Bei Familien mit Migrationshintergrund werde bei vergleichbaren Problemen seltener ins Sorgerecht eingegriffen als bei deutschen Familien. Ist das noch immer so?
Es ist generell schwierig, ein Kind aus einer Familie zu nehmen – und ich finde es auch richtig, dass es dafür hohe Hürden gibt.
Aber wenn Jugendliche eine Intensivtäterkarriere machen, ist es vor der Haft die einzige Möglichkeit.
Ja. Das sind dann familiäre Strukturen, in denen die Familie offensichtlich einen schlechten Einfluss hat. Da stellt sich schon die Frage, wie man eingreifen kann – aber auch, wie gefährdet diejenigen sind, die solche Schritte durchsetzen sollen. Es gab Fälle, da sind Jugendamtsmitarbeiter mit dem Tod bedroht worden, sollten sie das Kind aus der Familie nehmen. Dahinter steht die Frage, inwieweit der Staat von seinen Grundprinzipien abweicht. Ich finde: Wenn es um die Schutzbedürftigkeit derer geht, die unter solch einer Familie leiden, etwa junge Frauen, die von Zwangsverheiratung bedroht sind, muss der Staat intervenieren. Da muss es jede Hilfe geben, auch, dass wir diese Mädchen aus den Familien herausholen.
Wie oft passiert das hier in Neukölln?
Wir haben etwa zehn Fälle im Jahr. Aber die Dunkelziffer der Fälle von Zwangsheirat und arrangierten Ehen ist viel höher.
Wie würden Sie heute das Klima an Neuköllner Schulen beschreiben? Gibt es die von Kirsten Heisig bemerkte Verachtung für deutsche Lehrerinnen noch immer?
Das kann man nicht pauschal sagen. Allerdings weiß ich von Lehrerinnen, denen manche Väter aus religiösen Gründen nicht die Hand geben. Mir ist es als Schulstadträtin passiert, dass mir ein Neuntklässler nicht die Hand geben wollte. Der sagte: „Ich geb’ Ihnen nicht die Hand, ich mach’ den Herzensgruß. Das ist wegen meiner Religion.“ Ich hatte vielen Mitschülern vorher die Hand gegeben, um ihnen vor einem sportlichen Wettkampf Glück zu wünschen. Da steht man erst mal fassungslos da. Ein Neuntklässler, der sein Berufsleben noch vor sich hat, in einer Gesellschaft, in der Männer und Frauen die gleichen Rechte haben.
Neukölln hat rund 325 000 Einwohner. Was würden Sie sagen: Wird der Anteil derer, die Deutsch sprechen, in Zukunft sinken oder steigen?
Er wird steigen, das glaube ich schon. Aber der Anteil der zweisprachigen Kinder wird auch steigen, und eigentlich ist es ja eine große Chance, wenn ein Kind bilingual aufwächst: ein Elternteil, eine Sprache. Wir haben hier aber oft eher das Phänomen der doppelten Halbsprachigkeit. Da können Sie in der U-Bahn hören, wie manche von einer in die andere Sprache switchen, ohne es zu merken. Aber das heißt: keine Sprache richtig. Wenn Kinder zu Hause zum Beispiel Türkisch sprechen und in der Kita gutes Deutsch lernen, dann ist das auch bilingual. Aber natürlich ist es ein Riesenproblem, wenn die Kinder nicht in der Kita waren und kein Deutsch können. Das holen wir nicht mehr auf. Da sind wir wieder bei der Kita-Pflicht oder beim verbindlichen Kitabesuch – wie wir es nennen, spielt eigentlich keine Rolle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder, die in die Schule kommen, Deutsch können. Es kann nicht sein, dass der Schularzt in die Akte schreibt: „In Berlin geboren und aufgewachsen, Verständigung nicht möglich. Mit fünf Jahren!“