zum Hauptinhalt
Die Synagoge in der Rykestraße.
© mauritius images

Zum Tag "Berlin trägt Kippa": Jüdisches Leben in Berlin

Etwa 25.000 Juden leben in der Hauptstadt, 10.000 sind Mitglieder der Gemeinde. Aber was heißt jüdisches Leben? Porträts der Vielfalt.

Jüdisches Leben in Berlin, schon das Thema ist undeutlich, denn was soll das sein? Tun Juden im Alltag nicht dasselbe wie alle anderen auch, arbeiten, ihre Familien lieben, einkaufen, essen, feiern? Juwelier David Goldberg kann mit der Frage nach jüdischem Leben in Berlin deshalb erstmal nicht viel anfangen (siehe unten). Außerdem gibt es mittlerweile viele Israelis in der Stadt, und sicherlich sind die meisten von ihnen Juden, aber kann man sie zum jüdischen Leben rechnen, wenn sie zum Beispiel ein Startup betreiben oder Partys organisieren und nie in die Synagoge gehen? Wohl eher nicht. 4700 Israelis leben in Berlin, hinzu kommen sicherlich tausende eingebürgerte Israelis, denn Nachfahren der von den Nazis Verfolgten haben Anspruch auf einen deutschen Pass.

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin hat nach eigenen Angaben rund 10.000 Mitglieder, weitere 15000 Juden leben demnach in der Stadt, ohne Gemeindemitglied zu sein. Die wichtigsten Synagogen befinden sich in Charlottenburg; die zentrale orthodoxe Synagoge ist in der Joachimsthaler Straße, die wichtigste liberale Synagoge in der Pestalozzistraße. Nach Angaben des Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe beten an einem regulären Schabbat jeweils rund 100 Menschen dort, an hohen Feiertagen bis zu 400. In die wegen ihrer Schönheit bekannten Synagogen in der Rykestraße in Prenzlauer Berg und in der Oranienburger Straße in Mitte kommen etwa die Hälfte an Gläubigen.

Die Spaltung der Gemeinde zwischen zugewanderten „Neuen“ und Alteingesessenen spielt wohl keine allzu große Rolle mehr. Jedoch berichten Juden zunehmend über ein feindlicher werdendes Klima. Eine junge Mutter, deren zwei Söhne in die jüdische Kita und die jüdische Grundschule gehen, sagt, sie werde ihren Jungs später keinesfalls erlauben, mit Kippa in der Stadt herumzulaufen – zu gefährlich. Fatina Keilani

Dalia Grinfeld, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion

Junge deutsche Juden bringen Glaubenstraditionen zurück in ihre Familien. Davon ist Dalia Grinfeld, Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), überzeugt „Meine Mutter hat früher immer Speckwürfel in den Nudelauflauf getan“, sagt Grinfeld. Ihre Familie komme aus der ehemaligen Sowjetunion, wo Juden ihre Religion nicht offen leben konnten. So gingen viele Traditionen verloren. „Wir waren die erste Generation, die wieder in den jüdischen Kindergarten gehen konnte, in die jüdische Schule, in jüdische Ferienlager“, sagt die 23-Jährige. Noch im Kindergarten habe sie gelernt, dass Schweinefleisch nicht koscher ist. Seitdem ist der Nudelauflauf vegetarisch.

Dalia Grinfeld, Chefin der Jüdischen Studierendenunion.
Dalia Grinfeld, Chefin der Jüdischen Studierendenunion.
© privat/Margrit Schmidt

Grinfeld schätzt, dass in Berlin 1000 bis 1500 Juden im Alter zwischen 18 und 35 Jahren leben – für diese Gruppe will die JSUD sprechen. Die JSUD setzt sich etwa für die Rechte der jüdischen LGBTQ-Community ein. In Berlin feiert ein schwuler Rabbi seit einigen Jahren inklusive Gottesdienste. Die Veranstaltung nennt sich „LSD!“, kurz für „Let’s Start Davening“ – Lasst uns beten! Die Gemeinde versammelt sich in einem Theater, auf Kissen und Decken, mit Kerzenlicht, Wein und Essen.

Das passt zur dritten Aufgabe der JSUD: Gemeinschaft stiften, junge Juden vernetzen. Gemeinsame Museumsbesuche, religiöse Workshops und interkulturelle Diskussionsrunden, aber auch Rhetorik-Trainings gegen Antisemitismus. Für Studierende sind auch Bibliotheken Treffpunkte, zum Beispiel die der Jüdischen Gemeinde, Fasanenstraße. Dort dreht sich der Wissensvorsprung um: Junge Juden lernen von ihren Vorfahren. Jakob Pontius

David Goldberg, Fasanenstraße

„Ich lebe ganz normal“, sagt David Goldberg. Der 71-Jährige, Poloshirt, randlose Brille, muntere blaue Augen, sitzt hinten in seinem Laden Ecke Fasanenstraße und Kudamm, der Schmuck macht Blingbling, die Auslegeware ist lila, aus dem Radio dudelt Ed Sheeran; zwei schöne, elegante Frauen bedienen vorne. Hier wird durchaus mal eben eine Uhr für Zigtausende verkauft, an alle Art von Käufern, auch arabische – wie bei anderen Juwelieren auch. Goldberg ist 1947 im Auffanglager der Amerikaner in Schlachtensee geboren. Er gehe nur an bestimmten Feiertagen in die Synagoge, sagt er, zum jüdischen Neujahrsfest, an Pessach.

Im Zentrum steht für ihn dann die Gemeinschaft. „Die Frauen kochen die traditionellen Gerichte, man sitzt und plauscht“, sagt Goldberg: „Ich finde es herrlich, wenn alle zusammenkommen und 20 Personen am Tisch sitzen.“ Vorrangig sei die Familie versammelt, es würden aber auch enge Freunde dazu eingeladen, besonders wenn sie sonst allein wären. Jüdisches Leben, hier ist es – aber es findet in privatem Rahmen statt. Auch Goldberg stellt allerdings fest, dass die Zeiten sich ändern und es schneller zu antisemitischen Anfeindungen kommt. Fatina Keilani

Doron Eisenberg und Nir Ivenizki vom Restaurant „Gordon“ in Neukölln

Neukölln, Allerstraße, zwischen Hermannstraße und Tempelhofer Feld. Die Eckkneipen sind noch da, türkische Läden, Dönerbuden und Telefonläden bilden die nächste Schicht, doch der Schillerkiez ist erkennbar im Aufwind, Gentrifizierung ist das Thema, die Bio Company ist da, eine schicke Galerie – und das Restaurant „Gordon“, benannt nach der Gordon Street in Tel Aviv. Manche finden es mutig von Doron Eisenberg (links) und Nir Ivenizki, in diese muslimisch geprägte Gegend zu gehen und ihr Schild mit der hebräischen Schrift so präsent rauszuhängen, doch bisher hatten die zwei mit Anfeindungen noch nicht zu tun.

Das Lokal ist eine Mischung aus Restaurant und Plattenladen, typisch eingerichtet mit schlichten Holzmöbeln, im hinteren Teil kann man sich Platten anhören. Doron Eisenberg ist DJ und Musikproduzent und zugleich Küchenchef, zusammen mit Ivenizki hat er das erste deutsch-israelische Plattenlabel Legotek gegründet. Tja, ist das nun jüdisches Leben in Berlin? Ivenizki ist seit zwölf Jahren in Deutschland, und er ist gekommen, weil hier die Kapitale der elektronischen Musik ist. Er lebt nicht religiös, und als Vertreter jüdischen Lebens sieht er sich hier nicht, eher als Botschafter des Tel Aviver Lebensstils, der geprägt ist von Vielfalt und hoher Party-Affinität. Ähnlich ist es im „Benedict“ an der Uhlandstraße. Es ist der einzige Betrieb der Kette außerhalb Israels, wo es neun Filialen gibt, die Betreiber sind Israelis. Der Manager sagt, für Jüdisches sei er nicht zuständig, sondern für Frühstück. Das gibt es dort rund um die Uhr. Fatina Keilani

TuS Makkabi: Brücke zwischen Juden und Nichtjuden

Der jüdische Sportverein TuS Makkabi ist fester Bestandteil der jüdischen Gesellschaft. Er zelebriert die jüdischen Feiertage, er beteiligt sich an den Festen der jüdischen Gemeinde, seine Mitglieder tragen stolz den Davidstern auf dem Trikot. Kern der Makkabi-Philosophie ist aber die gegenseitige Verständigung. Über den Sport sollen Menschen verschiedener Religionen zusammen finden. So sind nur 60 Prozent der Makkabi-Mitglieder jüdischen Glaubens. Der Verein steht allen Konfessionen offen, deshalb gibt es auch muslimische Mitglieder bei Makkabi. „Sie kommen, weil sie einen sehr guten Verein mit einer wunderbaren Atmosphäre und sehr schönen Sportanlagen vorfinden“, sagt Mike Delberg, bei Makkabi zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit.

Doron Eisenberg und Nir Ivenizki vom Restaurant „Gordon“ in Neukölln.
Doron Eisenberg und Nir Ivenizki vom Restaurant „Gordon“ in Neukölln.
© Fatina Keilani.

Die Sportanlage von Makkabi in Charlottenburg gehört dem Bezirk, aber sie trägt den Namen von Julius Hirsch, einem jüdischen Fußball-Nationalspieler, der in Auschwitz ums Leben gekommen ist. Der Verein wurde 1970 wieder aufgebaut, nachdem er während der Nazi-Zeit verboten war. Issak Lat (Foto), Vorstandsmitglied von Makkabi, hatte erheblichen Anteil daran, dass die Maccabi Euro Games, das europaweite Treffen jüdischer Sportler, 2015 erstmals in Deutschland stattfinden konnte. Lat fühlte sich, als er „diese Wahnsinnsveranstaltung“ in jene Stadt holte, in der der Massenmord an den Juden organisiert wurde, auch den Holocaust-Überlebenden verantwortlich. Frank Bachner

Judith Tarazi, Leiterin des Kunstateliers Omanut

Das Kunstatelier Omanut in Tempelhof steht für Integration in zweierlei Hinsicht: Die Galerie stellt vor allem jüdische Künstler aus, das Atelier ist eine Tagesbetreuung für jüdische Menschen mit Behinderung. Vor neun Jahren begann es mit einer Malgruppe, seit 2016 gibt es das Atelier und die Galerie. Rund zwanzig Menschen verbringen dort ihre Tage, lernen durch die Kunst sich mit ihrer Herkunft zu identifizieren. „Wir machen mit den Menschen viel Kunst mit Bezug zu jüdischen Feiertagen, das soll die jüdische Identität stärken“, sagt Judith Tarazi, Leiterin des Kunstateliers, dessen Name Omanut einfach hebräisch für „Kunst“ ist.

Isaak Lat vom Makkabi-Vorstand.
Isaak Lat vom Makkabi-Vorstand.
© Thilo Rückeis

In der Galerie wird viel, aber nicht ausschließlich jüdische Kunst ausgestellt: „Die Arbeiten sind oft geprägt von Heimat, Identität und auch Verlust – aber eben nicht immer“, sagt Tarazi. „Es geht um jüdische Künstler, nicht um Kunst über das Judentum.“ Zu den Vernissagen kommen Gemeindemitglieder, aber auch Kunstinteressierte und Menschen aus dem Kiez. Die Galerie arbeitet mit anderen Integrationsträgern zusammen, wie Pinel, die mit psychischen Kranken arbeiten, oder Mina, einem Verein für Türkische Menschen mit Behinderung. Aktuell zeigt die Galerie eine Porträtserie über Jüdische Menschen mit Behinderung.

Jüdisches Leben zeichnet sich für Judith Tarazi vor allem durch Vielfalt aus: „Wir haben hier verschiedene Ausprägungen vom Judentum: Von egalitär bis Orthodox. Außerdem freue ich mich über die vielen Israelis, die viel ihrer Kultur und Identität mit nach Berlin bringen.“ Julia Kopatzki

Jossif Gofenberg, Klezmer-Musikant

Das Lieblingslied von Jossif Gofenberg handelt von der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, und davon wie traurig es ist, wenn die Mutter stirbt. „Eine jiddische Mame, sie versüßt die ganze Welt, eine jiddische Mame, oh, wie bitter wenn sie fehlt“, steht im Text. „Jiddische Mame“ ist jüdische Volksmusik, Klezmer, und Gofenberg ein Berliner Klezmer-Musikant. Er ist Dozent an der Jüdischen Volkshochschule und hat mehrere Bands in Berlin gegründet. Gofenberg ist ein runder und lachender Mann von 68 Jahren. „Ein Mensch kann nicht ohne Luft leben, ich kann nicht ohne Musik leben“, sagt er fröhlich.

Jossif Gofenberg, Klezmer-Musikant.
Jossif Gofenberg, Klezmer-Musikant.
© privat

Klezmer-Bands bestehen aus Klarinette, Geige, Akkordeon und Pauke – „alles was man tragen konnte, denn die ersten Klezmer-Musiker waren Wanderer, und mit einem Klavier kann man nicht wandern“, sagt Gofenberg. Er selbst spielt am liebsten Akkordeon. Dabei kommt es aufs Gefühl an, sagt er: „Das Wichtigste beim Klezmer ist die Seele.“ Mit seiner Band „Klezbanda“ probt er drei Mal die Woche und tritt auf Festen und anderen Veranstaltungen auf. In Berlin lehrt er Klezmer und spricht dabei auch über jüdisches Leben. 1990 kam er aus der Ukraine, „ich habe nur gute Erfahrungen mit Deutschen gemacht“, sagt er.

Als Jude hat Gofenberg Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. „In der Sowjetunion sagten sie, wir könnten doch lieber russische Lieder spielen statt unsere jiddischen“, sagt er. In Berlin ist ihm das noch nicht passiert, er lebt gerne hier. „Ich weiß aber, dass es in Berlin Antisemitismus gibt. Das dürfen wir nicht zulassen.“ Er ist überzeugt: „Es gibt viel mehr bessere Leute als schlechte. Die Guten müssen gewinnen.“ Max Polonyi

KosherLife, Brunnenstraße

Auf den ersten Blick ist KosherLife an der Brunnenstraße in Mitte ein ganz normaler Kiez-Supermarkt. Quer hinter der Eingangstür liegt ein rotes Kinderfahrrad, an der Kasse zieht ein etwa vierjähriges Mädchen an seiner Mutter, bettelt um Süßigkeiten. Im Tiefkühlregal liegen vegetarische Hot Dogs, vor der Kasse Knabberzeug, Schokolade und Wein. Das Besondere hier: Alle Lebensmittel sind koscher, entsprechen also den jüdischen Ernährungsregeln.

Avishai kommt deshalb zwei bis drei Mal pro Woche hierher zum Einkaufen, „obwohl ich in Neukölln wohne“, sagt er. Nur hier bekomme er koschere Milch und Fleisch von Tieren, die nach jüdischen Vorschriften geschlachtet wurden. „80 Prozent der Leute, die bei uns einkaufen, sind Stammkunden“, sagt der Verkäufer, der anonym bleiben möchte. Viele sind Israelis oder Familien aus Osteuropa.

Das ist auch im Laden zu sehen: Viele Produkte sind in hebräischen oder kyrillischen Buchstaben beschriftet. Hier im Kiez sei in letzter Zeit eine kleine jüdische Gemeinde entstanden, sagt der Verkäufer. Aber es kämen auch viele Juden aus anderen Bezirken. Es gebe zwar noch ein paar wenige andere koschere Supermärkte, wie den Daily Markt in Charlottenburg, aber von Neukölln aus sei KosherLife tatsächlich einer der nächsten.

Olga, mit dem bettelnden Mädchen an der Hand, wohnt um die Ecke. „Ich komme hauptsächlich für koscheren Käse und Fleisch her, das bekomme ich nirgendwo sonst. Und für Salat, da dürfen ja keine Insekten drin sein“, sagt Olga. „Oft kaufe ich auch Süßigkeiten für die Kinder.“ Sie lacht: „Das würde ich aber gerne reduzieren.“ Dann hilft sie ihrer Tochter, die Folie eines Schokoriegels aufzureißen. Jakob Pontius

Zur Startseite