zum Hauptinhalt

Streit um Babyklappen: Jedes Leben zählt

Mit anonymen Geburten und einer Babyklappe hilft Gabriele Stangl Frauen in Not. Wenn es nach dem Bundesfamilienministerium geht, wird sie das bald nicht mehr können.

Die alte Frau weinte. „Was sollte ich denn machen?“, fragte sie. „Es war Krieg, mein Mann in Gefangenschaft, ich hatte schon zwei Kinder und dieses dritte entstand durch eine Vergewaltigung. Aber trotzdem: Ich hätte das niemals tun dürfen.“ Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte die Frau niemandem von dem Kind erzählt. Erst 1996 vertraute sie sich im Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede der Seelsorgerin Gabriele Stangl an.

„Diese Frau war innerlich zerbrochen“, erzählt die aus Österreich stammende Pastorin. „Auch nach so vielen Jahren konnte sie es sich nicht verzeihen, dass sie das Kind im Wald abgelegt hatte.“ Einige Wochen später klopfte ein pensionierter Diakon mit einer verängstigten hochschwangeren Frau an Stangls Tür. „Ich weiß, dass das hier ein christliches Krankenhaus ist“, sagte er. „Diese Frau ist illegal im Land, hat keine Papiere. Und sie kann das Kind auf keinen Fall behalten. Sie werden ihr doch helfen, oder?“

„Natürlich“, sagte Gabriele Stangl. Und ging zu einem Arzt. Doch der wehrte ab. „Das geht rechtlich gar nicht“, sagt er. „Wenn wir ihr helfen, wäre das illegal. Schicken Sie sie wieder weg.“

Bis heute schmerzt es Gabriele Stangl. „Ich musste sie wieder wegschicken. Aber ich wusste nach diesen Erlebnissen, dass ich etwas für Frauen tun muss, die in solchen Notsituationen sind.“

Im März 2000 hörte sie davon, dass eine große Hamburger Kita die erste Babyklappe Deutschlands eingerichtet hatte. Gabriele Stangl beschloss, sich auch für eine Klappe zu engagieren – und für die Möglichkeit, dass Frauen im Krankenhaus Waldfriede anonym gebären können. Weil so viele tote Babys gefunden wurden. Und noch mehr wahrscheinlich nicht gefunden werden, sagt sie.

Im September 2000 war es so weit. Die Pastorin hatte Ärzte, Schwestern und am Ende auch das Jugendamt überzeugt. Etwa 20 Babys wurden seither in der Klappe abgelegt, etwa 150 Frauen haben ihre Kinder hier anonym geboren. Viele der Mütter haben schließlich doch Vertrauen gefasst und etwas von ihrer Identität preisgegeben.

Die Zukunft der Babyklappe ist ungewiss

Nun aber steht die Zukunft der Babyklappen infrage. Das Bundesfamilienministerium will existierende Klappen nur noch dulden und die Entstehung von neuen verhindern. Die Möglichkeit einer vollständig anonymen Geburt soll es nicht mehr geben. In Berlin und Brandenburg gibt es gegen die Pläne Widerstand. Der evangelische Landesbischof Markus Dröge sprach sich in einer Predigt am Ostersonntag dagegen aus, Babyklappen abzuschaffen – auch wenn eine strengere Überwachung dringend notwendig sei. „Es ist immer noch besser, ein Kind wächst auf ohne seine Herkunft zu kennen, als dass eine verzweifelte Mutter es sterben lässt“, sagte Dröge. Zuvor hatten sich bereits Berlins Gesundheitssenator Mario Czaja (CDU) und Brandenburgs Gesundheitsministerin Anita Tack (Linke) für die Klappen ausgesprochen, die Müttern einen Ausweg bieten sollen.

„Die meisten wollen ja nur nicht, dass in ihrem Umfeld jemand etwas erfährt“, sagt Gabriele Stangl. Das gelte vor allem für die sehr jungen Mütter. Aber auch 44-Jährige hätten im Krankenhaus Waldfriede schon anonym entbunden. Und keineswegs kämen die Frauen nur aus sozial schwachen Familien. Gymnasiastinnen sind ebenso darunter wie Ärztinnen.

„Jede Frau kann in eine Notlage kommen“, sagt die Seelsorgerin. Momentan werde undifferenziert gegen Babyklappen und anonyme Geburten argumentiert. „Ich bin auch dagegen, dass so etwas von Privatpersonen ohne Kontrolle betrieben wird. Aber an Krankenhäusern in Zusammenarbeit mit Jugendamt und Adoptionsbehörden – dagegen kann eigentlich niemand etwas haben.“

Auch das Argument, Babyklappen und anonyme Geburten könnten keine Kindstötungen verhindern, überzeugt Stangl nicht. Sie berichtet von einer 14-Jährigen, die anonym entbunden hatte. Als sie ihr Kind im Arm hielt, sagte sie: „Ein Glück, dass es das hier gibt, ich hätte sonst bestimmt irgendwelche Dummheiten gemacht.“ „Was hättest du denn getan?“, fragte die Seelsorgerin. „Ich hätte das Baby versteckt“, lautete die Antwort. „Vielleicht im Keller.“

Was das Recht auf Kenntnis der Herkunft anbelangt – auch da versuchen die Mitarbeiter im Krankenhaus Waldfriede alles Mögliche. Manche Mütter schreiben Briefe, andere geben ihrem Kind wenigstens noch einen Namen.

Auch die neuen Eltern werden unterstützt. „Viele Adoptivmütter sagen den Kindern früh, dass sie nicht in ihrem Bauch, aber in ihrem Herzen gewachsen und deshalb etwas ganz Besonderes sind“, sagt Gabriele Stangl. „Und dass ihre Mama das Beste für sie wollte und sie deshalb weggegeben hat.“ Und immer, wenn die Pastorin oder manchmal auch die leibliche Mutter den glücklichen Adoptiveltern ihr Kind überreicht, ist Gabriele Stangl froh, dass das Krankenhaus Waldfriede dies ermöglicht.

Im Jahr 2002 lag zum ersten und bisher einzigen Mal ein totes Kind in der Babyklappe. Es wurde nie aufgeklärt, von wem und warum der kleine Junge getötet worden war. Die Schwestern im Krankenhaus haben ihn Daniel genannt. Und Simson, weil das „kleine Sonne“ bedeutet. „Daniel Simson hat nicht leben dürfen“, sagt Gabriele Stangl. „Aber durch seinen Fall wurde unser Krankenhaus deutschlandweit bekannt. Und vielleicht hat er so bewirkt, dass andere kleine Sonnen nicht erlöschen mussten.“

Zur Startseite