Sexualität jenseits der 65: „Ja, das Verlangen bleibt“
Sex im Alter – darüber sprechen viele nicht. Wir schon: mit Klaus Beier, Sexualwissenschaftler an der Berliner Charité.
Herr Beier, im Begriff „Alterssexualität“ sehen Kritiker eine Stigmatisierung alter Menschen. Viel öfter aber wird gar nicht über Sex im Alter gesprochen. Und Jüngere glauben, im Alter verschwinden sexuelle Bedürfnisse. Haben Männer und Frauen ab 65 Jahren noch Sex?
Ja. In Partnerschaften hat rund ein Drittel noch Geschlechtsverkehr. Allerdings mit sinkender Koitusfrequenz. Nur empfiehlt es sich nicht, Sexualität auf Geschlechtsverkehr zu reduzieren. Körperliche Nähe und Zärtlichkeiten sind eine bedeutsame Quelle für Zufriedenheit. Intimität ist für alte Menschen genauso wichtig wie für junge. Im Alter steigt aber die Wahrscheinlichkeit der Partnerlosigkeit, insbesondere für Frauen, weil Männer eine geringere Lebenserwartung haben.
Das Verlangen aber bleibt also?
Zweifellos. Studien belegen, dass nur für wenige alte Menschen die Sexualität völlig an Bedeutung verloren hat. Dieser Anteil sinkt noch mal, wenn ein erweitertes Verständnis von Intimität zugrunde gelegt wird. Das ist nachvollziehbar, weil wir Menschen auf Bindung programmiert sind und Nähe, Annahme, Sicherheit und Geborgenheit Grundbedürfnisse sind.
Umgekehrt gilt, dass nicht wenige Menschen, besonders Frauen, mit Sexualität Negatives verbinden, etwa wenn sie früher Opfer sexueller Traumatisierungen geworden sind. Das Vertrauen in das Gelingen von Beziehungen kann dann bis ins hohe Alter erschüttert sein.
Manche fühlen sich zu alt für Sex?
Sehr häufig spielen Einschränkungen der sexuellen Funktionen eine Rolle. Das ist mit zunehmendem Alter der Normalfall. So benötigt der alternde Mann für die Erektion intensivere Stimulationen, die Steifigkeit ist meist geringer, alles dauert länger. Das gilt auch für die Frau: Die Scheide verliert an Dehnungsfähigkeit, die Durchblutung wird schwächer, es dauert länger, bis sie feucht wird. Dazu können Beschwerden durch Beckenbodenschwäche und Gebärmuttersenkung kommen. Außerdem kann Urinverlust beim Sex zu Schamgefühlen führen.
Ziehen sich die Partner dann voneinander enttäuscht zurück?
Schwierig wird es, wenn sie nicht über Ängste sprechen. Männer glauben oft, sie taugen ohne Erektion für die Partnerin wenig. Dabei greifen einige zu erektionsfördernden Medikamenten, manchmal ohne Absprache mit der Partnerin.
Männer können vergleichsweise unkompliziert Prostituierte besuchen.
Auch Männer, die Bordelle besuchen, sind oft frustriert – sie wünschen sich ja, wegen ihrer selbst geliebt und angenommen zu werden. Die soziale Ressource Partnerschaft bleibt im Alter zentral. Andererseits gibt es im Alter, wie gesagt, einen weiteren Unterschied zwischen den Geschlechtern: Da die Lebenserwartung von Frauen durchschnittlich höher ist, sind sie häufiger partnerlos. Ein Senior wird da manchmal richtig umworben.
Was ist mit Agenturen, die Masseurinnen in Heime vermitteln? Einige bieten an, dass sich die Frauen ausziehen oder mit den Bewohnern kuscheln.
Solange damit keine unrealistischen Erwartungen verbunden sind, dem Kunden also klar ist, dass sich daraus keine Beziehung ergeben wird, lässt sich dagegen nichts einwenden. Eine intime Partnerschaft ersetzt es nicht.
Was für Probleme gibt es sonst?
Aufgrund steigender Lebenserwartung treten chronische Erkrankungen häufiger auf. Dabei ließen sich durch Einbeziehung von Partnern psychosoziale Ressourcen für die Betroffenen viel stärker nutzen. Etwa bei Parkinson: Hier ist sexuelles Verlangen durch Medikamente oft gesteigert, was zu gravierenden Belastungen für die Partnerschaften führen kann.
Die Medizin sollte sich hier genauso um Lösungen bemühen wie bei Demenz. Demenzkranke verlieren Selbstkontrolle. Mancher zieht sich aus und steht plötzlich nackt im Raum. Zuweilen können nur männliche Pfleger ins Zimmer gelassen werden. Oder es sind impulsdämpfende Medikamente nötig. Es gibt übrigens auch Frauen, die Pfleger zu sich ziehen und zu küssen versuchen.
Was muss sich generell ändern?
Das Verständnis von Sexualität muss erweitert werden. Wie zufrieden Menschen mit ihren sexuellen Beziehungen sind, erschöpft sich nicht in der Erlangung von Erektionen und Orgasmen. Das ist ein Zerrbild, das alte Menschen von Kontakten abhalten könnte. Die Gesellschaft und das Gesundheitssystem sollten das korrigieren und zur Nutzung aller Möglichkeiten intimer Nähe ermutigen.
Ärzte und Pflegekräfte könnten Patienten und Altenheimbewohnern also dazu raten, sich mit anderen Menschen zu treffen?
Alter ist kein eindimensionaler Abbauprozess, sondern durch Entwicklungsmöglichkeiten gekennzeichnet. Ein gelungenes Intimleben stabilisiert emotional und fördert so insgesamt die Gesundheit. Das sage ich auch den angehenden Medizinern in meinen Vorlesungen.
Das Interview führte Hannes Heine. Klaus Beier leitet das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité.
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