Jahrestag des Anschlags vom Breitscheidplatz: Ist sich Berlin des Terrorschreckens gewahr?
Berlin hält inne – nicht fürs Gedenken, sondern wegen Corona. Dieser Moment kann uns zu neuen Einsichten im Umgang mit der Terrorgefahr bringen. Ein Kommentar.
Und plötzlich ist es still. Kein Trubel mehr vom Weihnachtsmarkt nebenan, kein Feiern, kein Glühwein. An diesem Samstag wird am Breitscheidplatz in Berlin der Opfer des Anschlags des Islamisten Anis Amri vor vier Jahren gedacht.
Und die Coronakrise zwingt Berlin auf, was sich die Hinterbliebenen der Opfer oft gewünscht haben: Die Stadt hält inne. In diesem Jahr führt das Postulat ins Leere, sich die Freiheit, so zu leben wie man will, vom Terror nicht nehmen zu lassen.
Diesen Moment gilt es zu nutzen. Weil nun Zeit ist, das zu tun, was sonst im Trubel untergeht. Dazu zählt die Erinnerung an den schwersten islamistischen Anschlag auf deutschem Boden. Anis Amri, der Attentäter, hatte zwölf Menschen getötet und unzählige verletzt. Nicht wenige leiden unter den Folgen noch immer.
Der Terror mag uns damit konfrontiert haben, dass es für jeden von uns ganz schnell vorbei sein kann, überall. Die Corona-Pandemie zwingt uns angesichts des täglichen Sterbens in den Kliniken von Neuem zu dieser Einsicht.
Was bleibt davon? Das Risiko durch das Virus ist gegenwärtig – aber wie gewahr sind wir uns der Terrorgefahr?
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Die amtliche Warnung, in Berlin, in der Bundesrepublik, ja in Europa herrsche eine hohe abstrakte Gefährdungslage, erscheint diffus. Auch deshalb lässt sie sich gut verdrängen. Weil es sich schwer leben lässt in Anbetracht des Todes: Angst lähmt. Dabei ist diese Gefahr konkret. Jederzeit ist mit einem Anschlag zu rechnen.
Anfang November zog ein in Österreich geborener 20 Jahre alter Mann, der neben dem Pass der Alpenrepublik auch den nordmazedonischen besaß, mordend durch die Wiener Innenstadt.
Ein radikalisierter junger Mann, der nach Syrien in den Krieg der Terrormiliz Islamischer Staat ziehen wollte, erschoss vier Menschen, über 20 wurden teils schwer verletzt. Nach London, Berlin, Nizza und Paris ist nun eine weitere europäische Stadt vom Terror getroffen.
In Berlin werden die Menschen auch an diesem vierten Jahrestag des Amri-Anschlags über den Breitscheidplatz gehen, ohne einen Gedanken an die Geschehnisse von 2016 zu verschwenden. Jede und jeder hat das Recht, sich abzuwenden vom Blick auf das Grauen.
„Alles, was danach kommt, ist Bumm“
Nur: Die Opfer und ihre Angehörigen können es nicht, zu viele Fragen sind offen in den Untersuchungsausschüssen des Bundestag und des Berliner Abgeordnetenhauses. Die Aufarbeitung ist noch lange nicht vorbei. Gewiss ist nur: Das Versagen im Umgang mit Anis Amri vor dem Anschlag ist erschreckend. Er hätte gestoppt werden können.
Stattdessen gab es Pannen, überforderte Behörden, Kompetenzgerangel. Bereits wenige Monate zuvor, im Frühjahr 2016, hatte der damalige Chef des Berliner Verfassungsschutzes, Bernd Palenda, vor der Gefahr eines Anschlags gewarnt: „Höher geht es nicht – alles, was danach kommt, ist Bumm.“
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Er sollte recht behalten. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) dagegen sagte am Freitag, als er sein neues Anti-Terror-Konzept vorstellte: „Der Anschlag hat uns kalt erwischt.“ Obwohl sie wussten, was kommen kann, waren die Behörden nicht vorbereitet. Wie so oft führte erst der Knall, der Schmerz, zum Umdenken.
Die Politik hat daraus ihre Lehren gezogen: mehr Personal, bessere Ausstattung und Prävention, gebündelte und kurze Kommunikations- und Entscheidungswege.
Vieles in Geisels Konzept ist Ergebnis des Umbaus in der Terrorabwehr seit 2016 und bekannt. Sie soll für die Zukunft aufgestellt, flexibler, lernfähiger sein. Es ist eine Chance. Und die muss ergriffen werden. Aber reicht das?
Wie weit sind wir bereit zu gehen bei Überwachung, Abwehr – oder dabei, unsere Freiheiten im Kampf gegen ihre Feinde einzuschränken? Niemand möge sich täuschen: Es ist schlicht unmöglich, dass die Sicherheitsbehörden alle potenziellen Attentäter und Terroristen im Blick behalten. Sie können es aber besser machen.